Gedenken in Sivas: Dieses Licht wird niemals erlöschen

Vor genau 29 Jahren kamen 35 Menschen zumeist alevitischen Glaubens im Hotel Madımak in Sivas bei einem islamistisch-nationalistischen Pogrom ums Leben. Dieses Ereignis wirkt bis heute nach. Noch immer kämpfen Opfer und Hinterbliebene um Gerechtigkeit.

Tausende Angehörige des alevitischen Glaubens gedachten an diesem Samstag in Sivas (ku. Sêwas) des Pogroms von Madımak, das vor genau 29 Jahren stattgefunden hat. Das Massaker ereignete sich am 2. Juli 1993 und richtete sich gegen Teilnehmende eines Kulturfestivals, das zu Ehren des alevitischen Volksdichters Pir Sultan Abdal in der zentralanatolischen Stadt veranstaltet worden war. Die Gäste des Festes, die im Hotel Madımak logierten, waren überwiegend alevitische Kunstschaffende; Dichter:innen, Denker:innen, Sänger:innen und Folkloretänzer:innen, aber auch kritische Intellektuelle unterschiedlicher Konfessionen.

Ein religiös und nationalistisch aufgewiegelter Mob nahm unter anderem die Anwesenheit des bekennenden Atheisten und bekannten Schriftstellers Aziz Nesin zum Vorwand, das Hotel in Brand zu setzen. Die eingeschlossenen Menschen konnten sich nicht aus dem brennenden Gebäude retten, weil der wütende Mob ihnen den Weg versperrte und den Brand bejubelte. Obwohl Polizei, Militär und Feuerwehr alarmiert waren, griffen sie erst Stunden später ein. Die Ereignisse wurden über Stunden live im Staatsfernsehen übertragen. 35 Menschen, darunter zwei Hotelangestellte, kamen in dem Feuer im Madımak-Hotel ums Leben.


Das Pogrom von Sivas wirkt bis heute nach. Noch immer müssen Opfer und Hinterbliebene um Gerechtigkeit kämpfen. Weder wurden die Geschehnisse aufgearbeitet noch eine Gedenk- und Erinnerungskultur etabliert, die die Leiden der Betroffenen und Hinterbliebenen anerkennt. Nur wenige Täter wurden strafrechtlich verfolgt, einige von ihnen sind ins Ausland geflüchtet und leben unbehelligt als Asylberechtigte in Deutschland. Strafverfahren wurden verzögert und für verjährt erklärt. In einem der Prozesse gegen Täter des Sivas-Pogroms hatte Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan die Verjährung sogar als „freudiges Ereignis für das Volk“ bezeichnet. 2020 begnadigte er sogar einen der Haupttäter – aus „Rücksicht“ auf dessen gesundheitliche Verfassung.


Das Licht von Sivas wird niemals erlöschen

Anlässlich des Jahrestags des Massakers von Sivas versammelten sich am Samstag tausende Menschen im Zentrum der Stadt zu einer Demonstration. Zuerst wurde eine Schweigeminute gehalten, danach wurden die Namen der Opfer verlesen: Muhlis Akarsu (45), Muhibe Akarsu (44), Gülender Akça (25), Metin Altıok (53), Mehmet Atay (25), Sehergül Ateş (29), Behçet Sefa Aysan (44), Erdal Ayrancı (35), Asım Bezirci (66), Belkıs Çakır (18), Serpil Canik, (19), Muammer Çiçek (26), Nesimi Çimen (62), Carina Cuanna Thuijs (23), Serkan Doğan (19), Hasret Gültekin (22), Murat Gündüz (22), Gülsüm Karababa (22), Uğur Kaynar (37), Asaf Koçak (35), Koray Kaya (12), Menekşe Kaya (15), Handan Metin (20), Sait Metin (23), Huriye Özkan (22), Yeşim Özkan (20), Ahmet Özyurt (21), Nurcan Şahin (18), Özlem Şahin (17), Asuman Sivri (16), Yasemin Sivri (19), Edibe Sulari (40), İnci Türk (22) sowie die Hotelangestellten Ahmet Öztürk (21) und Kenan Yılmaz (21).


In einer Prozession zog die Menge anschließend bis vor das Madımak-Hotel, an der Spitze liefen Angehörige von Opfern mit Bildern ihrer Liebsten in den Händen. Immer wieder wurde gerufen: „Das Licht von Sivas wird niemals erlöschen“ und „Die Täter von Sivas sind die Gründer der AKP“. Lautstark wurde auch die Umwidmung des ehemaligen Madımak-Hotels in ein „Museum der Schande“ verlangt. Schon seit dem Massaker wird dieser Schritt als Weg zur Aufarbeitung gefordert, dort vergeblich. Jede Regierung verweigert den Hinterbliebenen und Opfern, diesen Wunsch zu erfüllen. Einige Jahre nach dem Massaker hatte die türkische Führung genehmigt, dass anstelle des Hotels ein Kebap-Laden eröffnet wird. Nach heftigen Protesten wurde das Restaurant zwar geschlossen, aber erst im Jahr 2009. Zwei Jahre später wurde auf Betreiben der AKP ein „Zentrum für Forschung und Kultur“ in dem Gebäude errichtet.


Als die Demonstration ihren Zielort erreichte, wurden vor dem ehemaligen Madımak-Hotel rote Nelken abgelegt. Nach einer weiteren Schweigeminute wurde in Begleitung von alevitischen Klageliedern der Semah getanzt. Der Semah, auch „Tanz der Kraniche“, gehört zu den Hauptbestandteilen der alevitischen Lehre und ist eine besondere Form des gemeinschaftlichen Gebets.


An den Semah anschließend wurden Reden gehalten. Cuma Erçe, Vorsitzender des Kulturvereins Pir Sultan Abdal, fasste im Namen seiner Gemeinschaft zusammen: „Die Wunde, die Sivas geschlagen hat, blutet angesichts der Politik des Regimes weiter. Madımak wurde mit unseren Menschen in Brand gesetzt, weil schon die damals vorherrschende Mentalität auf Rechtsextremismus, Rassismus und Nationalismus fußte. Dieser Brand wurde noch immer nicht gelöscht, da sich dieses Phänomen heute im Ein-Mann-Regime widerspiegelt. Jene, die uns im Flammentod sterben ließen, sind dieselben, die die heutige Regierung stellen. Diese Tatsache beantwortet die Frage nach der verweigerten Gerechtigkeit. Doch das Pogrom von Sivas ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es kann nicht verjähren. Wir als Angehörige und Vertretung der alevitischen Öffentlichkeit werden so lange Hand in Hand, Schulter an Schulter gehen und dafür kämpfen, bis den Opfern des Pogroms, ihren Hinterbliebenen und uns allen Gerechtigkeit wiederfährt. Am 2. Juli 1993 sind hier an diesem Ort nicht nur 33 unserer Liebsten verbrannt worden. Auch Werte wie Säkularismus, Recht, Gerechtigkeit und Demokratie starben den Flammentod. Unsere Verbundenheit gilt dem Weg, diese Werte wieder zum Leben zu erwecken. Wir werden kämpfen, auch wenn es das letzte ist, das wir tun.“

Während der Rede von Cuma Erçe kam es zu Provokationen durch eine Gruppe türkischer Rechtsradikaler. Die Menschenmenge protestiere mit Parolen, die anwesende Polizei unternahm nichts.