Am Dienstag fand im Rahmen der noch bis Anfang Dezember andauernden kurdischen Kulturwochen in Kiel eine Lesung aus der dreiteiligen Biographie „Mein ganzes Leben war ein Kampf“ von Sakine Cansız statt. Die Hamburger Ethnologin Anja Flach, die an der deutschen Übersetzung des Buches beteiligt war, berichtete über ihre gemeinsame politische Arbeit mit Sakine Cansız und las zusammen mit Nicole Schultheiß Auszüge aus der Biographie. Anja Flach war selbst in den 1990er Jahren bei der Guerilla in Kurdistan und hat Sakine Cansız dort kennengelernt.
Sakine Cansız gilt in der kurdischen Frauenbewegung als Symbol für den Widerstand gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Sie war eine Mitbegründerin der PKK. 2013 wurde sie in Paris zusammen mit Fidan Doğan und Leyla Şaylemez vom türkischen Geheimdienst MIT ermordet. Für den Mord ist bis heute niemand verurteilt worden. Während der Militärdiktatur in der Türkei verbrachte Sakine Cansız zwölf Jahre in Haft. In den 1990er Jahren wurde ihre Biographie veröffentlicht. Nach ihrer Ermordung erschien eine Neuauflage im Mezopotamien-Verlag, der 2019 als vermeintliche Teilorganisation der PKK vom deutschen Bundesinnenministerium verboten wurde.
Bei der Veranstaltung in Kiel berichtete Anja Flach über das Leben und die politische Entwicklung von Sakine Cansız. In Dersim geboren, erlebte sie die Repression und Unterdrückung der 1970er Jahre, die sie in ihrer politischen Entwicklung beeinflussten. Zwischen 1977 und 1979 reiste sie in verschiedene Städte Kurdistans und diskutierte dort mit Menschen über die Befreiung der Frauen. Sie legte somit einen Grundstein für die sich entwickelnde Frauenbewegung. Im Jahr 1979 wurde sie verhaftet und blieb bis 1990 inhaftiert. In der Haft war sie schwerer Folter ausgesetzt, jedoch blieb ihr Widerstand ungebrochen. Nach ihrer Haftentlassung wurde sie direkt wieder in der Bewegung aktiv. Auf Anregung von Abdullah Öcalan schrieb sie in den 1990er Jahren ihre Lebensgeschichte auf. In dieser Zeit traf auch Anja Flach Sakine Cansız zum ersten Mal in den Bergen Kurdistans. Zunächst wurde nur eine kleine Auflage der Bücher für die Guerilla gedruckt und weiterverbreitet. Später kam Sakine Cansız nach Europa. 2007 wurde sie auf Grundlage eines türkischen Auslieferungsgesuches in Hamburg verhaftet und nach heftigen Protesten der kurdischen Community wenige Wochen später aus der Haft entlassen. In den Folgejahren war sie wiederholt in den Bergen Kurdistans und traf dort abermals Anja Flach.
„Ich bin der glücklichste Mensch der Welt“
Nach der kurzen Einleitung begann die Lesung, die wie auch die Bücher in ihre Lebensphasen vor dem Gefängnis, im Gefängnis und der Zeit nach dem Gefängnis aufgeteilt war. Dazu schrieb Sakine Cansız: „Es ist nicht einfach, das alles zu beschreiben, und es ist schwer, es zu begreifen, ohne es selbst erlebt zu haben. Schreiben reicht nicht aus, um die Schlichtheit und Schönheit jener Tage und meine damaligen Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Beim Schreiben erlebe ich diese Gefühle, die mich damals erfassten, von ganzem Herzen und in vollem Bewusstsein noch einmal. Es war wunderschön, so vorbehaltlos und unverfälscht über Widersprüche und Kämpfe zu einer Überzeugung, einem Ideal zu gelangen. Ich empfand es als ein großes Glück und ich wiederhole mit lauter Stimme: Ich bin der glücklichste Mensch der Welt, weil ich an diesem Kampf teilhabe.“
Im ersten Band beschreibt Sakine Cansız ihre politische Entwicklung. So lernte sie im Alter von 17 Jahren Menschen aus dem Umfeld der späteren PKK kennen und war beeindruckt von ihrem bescheidenen Lebensstil. Im weiteren Verlauf entwickelte sie ein politisches Bewusstsein über die Unterdrückung der Kurd:innen. Nach einem Treffen mit Abdullah Öcalan in Ankara kehrte Sakine Cansız nach Kurdistan zurück und begann professionell für die kurdische Freiheitsbewegung zu arbeiten. Dabei bestand ihre Aufgabe in der Verbreitung der Ideologie und der Gewinnung von Frauen für den revolutionären Kampf. Im Jahr 1978 nahm sie als eine von zwei Frauen am Gründungskongress der PKK teil und arbeitete anschließend weiter an der Frauenorganisierung.
„Nichts und niemand konnte dieses Vertrauen erschüttern“
Der zweite Band thematisiert die Zeit in den Gefängnissen, die für Sakine Cansız von Liebe und Verrat geprägt waren. Dabei war sie schwerster Folter ausgesetzt, wobei für sie die physische Folter nicht so schlimm war wie der Verrat, den sie erlebte:
„Anfangs gab ich überhaupt keinen Ton von mir. Es war nicht schwer, den Schmerz der Knüppelschläge auszuhalten. Sie schlugen willkürlich auf meine Beine, zwischen meine Beine und auf den Rücken. Es war diese Art von Schmerz, der das Gehirn betäubt. Ich explodierte erst, als meine Mitgefangenen anfingen zu sprechen. Es waren unterwürfige, widerwillig hervorgebrachte Wörter. Ich beschimpfte sowohl meine eigenen Leute als auch die Polizisten, aber vor allem die Genossen. (...) Ich setzte meine Beschimpfungen fort, bis die Polizisten ihre bisherige Taktik bereuten, denn außer Rıza wiederholte niemand seine Aussage. Schließlich wurde ich aus dem Raum geholt.“
Sakine Cansız beschreibt im weiteren Verlauf die brutalen Haftbedingungen in Folge des Militärputschs im Jahr 1980 in der Türkei. Dabei hielt sie trotzdem an ihren Überzeugungen fest: „Nichts und niemand konnte dieses Vertrauen erschüttern, nicht für einen einzigen Moment. Natürlich ließ auch ich mich von negativen Entwicklungen beeinflussen und allzu oft gelang es mir nicht, die Parteilinie angemessen zu vertreten. Dennoch waren es stets meine Überzeugungen, die mir die Kraft zum Weiterleben gaben. Ich mochte diese Seite an mir und hielt mich an ihr fest.“
In ihrem Buch thematisiert Sakine Cansız auch die sich aus ihren persönlichen Umständen ergebenden Gedanken zu Liebe und der Vereinbarkeit dieser mit dem Befreiungskampf. Trotz der erlebten Folter stand auch nach ihrer Zeit im Gefängnis der Widerstand im Vordergrund. Anja Flach schilderte die unterschiedliche ideologische Entwicklung, die in den Gefängnissen im Vergleich zur Entwicklung in den Bergen Kurdistans beispielsweise in Bezug auf Geschlechterfragen stattgefunden hatte. Auch aus diesem Grund war die nach der Haft folgende Zeit von großen und harten Diskussionen innerhalb der kurdischen Freiheitsbewegung geprägt.
„Die grundlegende Besonderheit der PKK war Menschenliebe“
Der letzte Teil der Lesung beinhaltete die Betrachtung des dritten Bands der Lebensgeschichte von Sakine Cansız. Zunächst ging sie in die Parteiakademie nach Damaskus und anschließend in die Berge. Dort war sie maßgeblich am Aufbau der Frauenguerilla beteiligt. Anja Flach beschrieb Sakine Cansız als eine Revolutionärin, die stets den Status Quo bekämpfte und emotional, dennoch gefasst, diskutierte. Ihr Ziel war die Bekämpfung des Patriarchats, wobei sowohl Männer als auch Frauen diesen Kampf führen mussten. Trotz ihrer starken Entschlossenheit bewahrte sich Sakine Cansız ihre Menschlichkeit:
„Der Feind griff mit den niederträchtigsten Methoden an. Daher war es so wichtig, alles, was den Menschen ausmachte, zu lieben, zu schützen und sorgfältig damit umzugehen. Wäre ich anders geworden, würde ich meine eigene Menschlichkeit in Frage stellen. Dieser Anspruch musste verfestigt werden. Kein unmenschliches Vorgehen konnte mit der Realität des Krieges gerechtfertigt werden. Das ist es ja gerade, was der Feind tut und was ihn ausmacht. Revolutionäre Menschen, die PKK, taten so etwas nicht, durften es nicht tun. Die grundlegende Besonderheit der PKK war schließlich die Wertschätzung des Menschen, die große Menschenliebe, die wunderschönen genossenschaftlichen Beziehungen.“
Erhältlich sind die Bücher beim Unrast Verlag.