Wie Sakine Cansız die Gründung der PKK erlebte

Sakine Cansız war eine von zwei Frauen, die vor 44 Jahren am Gründungskongress der PKK teilnahmen. In ihrem Buch „Mein ganzes Leben war ein Kampf“ beschreibt sie die damalige Zeit. Wir haben ihre Schilderungen zusammengefasst.

Der Vorsitzende [Abdullah Öcalan] kam zu uns in die Kellerwohnung in Elazığ. Die Wohnung war feucht. In der kalten Jahreszeit war es kaum auszuhalten. Wir hatten einen kleinen Ofen, den wir im vorderen Zimmer am Eingang aufgestellt hatten. Da wir kein Holz hatten, war er meistens nutzlos. Manchmal verbrannten wir Holzkisten, die wir im Laden kauften. Dadurch wurde es jedoch nur vorübergehend etwas wärmer.

In der Zeit, die der Vorsitzende bei uns verbrachte, war ich meistens den ganzen Tag unterwegs, um meiner Arbeit nachzukommen. Der Vorsitzende blieb alleine in der Wohnung zurück. Als ich eines Tages nach Hauses kam, putzte er die Wohnung. Er war sehr sorgfältig dabei. Wo er sich aufhielt, gab es keinen Schmutz und keine Unordnung. Morgens aß er Brot mit Zwiebeln.

Für ihn war nichts, was mit dem Leben zu tun hatte, gleichgültig. Alles war Teil seines Kampfes. Aus diesem Grund strahlte er eine Anziehungskraft aus, die alles veränderte. Während der Zeit, die er in Elazığ verbrachte, wechselte er mehrmals die Wohnung. Er sprach mit allen Menschen, auf die er traf, und weckte damit bei allen Interesse. In seiner Anwesenheit rissen sich alle zusammen. Gab es sonst nichts zu tun, saßen wir in der Wohnung, um eine Zeitung oder ein Buch zu lesen. Es herrschte eine ernsthafte Atmosphäre.

Cemil [Bayik] regte mich dazu an, den neu erstellten Programmentwurf zu lesen und die Geschichte kommunistischer Parteien zu recherchieren. Ich las Artikel über die Arbeiterpartei Vietnam, die Bolschewistische Partei und China. Dabei machte ich mir Notizen. Die Bewegung verwandelte sich immer mehr zu einer politischen Kraft. Sie benötigte Kader, die über vielfältiges Wissen verfügten und auf die aktuellen Entwicklungen reagieren konnten.

Die Art und Weise, wie der Vorsitzende Recherchen anstellte, war immer beispielhaft und galt als Besonderheit unserer Bewegung. Es ging darum, von linken Bewegungen anderer Länder zu lernen. Was macht eine Partei aus, wie arbeitet sie, wie muss sie unter den spezifischen Bedingungen Kurdistans ausgerichtet sein? Über solche Fragen diskutierten wir.

In unserer Arbeit und den Diskussionen beschäftigten wir uns weiter mit dem Thema Parteigründung. Cemil warf einen Blick auf unsere Notizen und sprach einige Punkte an. Es ging ihm vor allem um den demokratischen Zentralismus, seine Funktionsweise in klassischen kommunistischen Parteien und die Frage, wie diese Organisationsform bei uns gehandhabt werden sollte. Er war der Meinung, dass der Zentralismus einen höheren Stellenwert einnehmen müsste.

In der Diskussion machten wir uns bewusst, dass sich die Voraussetzungen für revolutionäre Organisationen in Kurdistan von denen an anderen Orten unterschieden und wir uns nach den speziellen Bedürfnissen hier ausrichten mussten. Cemil analysierte das Niveau, das unser Kampf erreicht hatte, und seine Auswirkungen auf die Gesellschaft. Er stellte verschiedene Fragen, die er selbst beantwortete. Mir war klar, dass die Diskussionen dazu dienten, uns vorzubereiten, aber um was es ging, wusste ich nicht. Ich konnte nur vermuten, dass es Veränderungen an unserer Organisationsform geben werde. Ich stellte keine Fragen. Die revolutionäre Konspirativität und Disziplin ließen keine Spekulationen zu.

Erst am letzten Tag sagte Cemil zu mir: „Mach dich bereit, wir fahren." Es war Ende November und sehr kalt. Ich hatte nicht die richtige Bekleidung. Mit der Kleidung, die ich die ganze Zeit in Elazığ getragen hatte, wollte ich auch aus Sicherheitsgründen nicht losfahren. Es war angedeutet worden, dass wir einen langen Weg vor uns hatten. Ich ging zu Cemile. Sie war ja Lehrerin und verfügte über Ersatzkleidung. Ich bekam eine Jacke und Schuhe von ihr. Semra gab mir eine Hose und einen Pullover. Dann machten wir uns auf den Weg.

Gegen Abend erreichten wir Amed. Wir gingen zu einem zuvor vereinbarten Treffpunkt, an dem sich Hüseyin von uns verabschiedete. Mit Cemil fuhr ich weiter zu einer Wohnung in Bağlar.

Ich wusste immer noch nicht, warum ich mit wem wohin fuhr. Ich stellte jedoch keine Fragen. Saime Aşkın öffnete uns die Tür. Der Vorsitzende war auch da. Wir gaben uns die Hand. Neben seinem Sitzplatz lagen einige Bücher: Die Geschichte der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands sowie von Lenin „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück" und „Was tun?". Ich nahm sie in die Hand und betrachtete sie.

Der Vorsitzende fragte: „Habt ihr recherchiert und euch intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt?" Er verwies auf verschiedene Punkte und fuhr fort, konzentriert zu lesen. Ich verhielt mich vorsichtig, um ihn nicht abzulenken, und versuchte, die Seiten des Buches in meiner Hand möglichst leise umzublättern. Er warf sogar während des Essens ab und zu einen Blick in seine Bücher. Er stellte Fragen und kommentierte verschiedene Themen. Er erledigte mehrere Dinge gleichzeitig. Dann klingelte es an der Tür. „Das Auto ist da", hieß es. Der Vorsitzende stand unvermittelt auf und sagte: „Los, lasst uns gehen."

Der Vorsitzende, Cemil, Kesire und ich stiegen in ein Taxi. Der Fahrer fuhr sehr vorsichtig. An manchen Stellen löschte er die Innenbeleuchtung im Auto. Wir erreichten schließlich das Dorf Fis im Kreis Lice. Es lag an einer Kreuzung zur Linken der Hauptstraße und hatte viele Gärten. Wir hielten vor einem Haus, das von außen recht groß aussah.

Die Umgebung wurde ein letztes Mal kontrolliert. Es war nichts zu sehen. Das Haus stand an einer abgelegenen Stelle. Die Dorfbevölkerung würde kaum bemerken, wer hier ein und aus ging. Außerdem war es dunkel, auch das war ein Vorteil. Gemeinsam betraten wir das Lehmhaus. Es hatte ein Wohnzimmer und zwei Schlafzimmer. Im Wohnzimmer brannte der Ofen, es war warm. Die Eigentümer waren nicht anwesend. Sie übernachteten anderswo und brachten uns bloß das Essen.

Es waren bereits weitere Freunde anwesend, die vor uns eingetroffen waren. Wir schüttelten uns die Hände. Immer mehr Freunde kamen dazu. Es war aufregend. Alle bekannten Kader waren hier, sozusagen das Gehirn der Bewegung. Ich freute mich und dachte: „Anscheinend wird eine wichtige Versammlung stattfinden, ansonsten wären nicht so viele Leute zusammen gekommen."

Die meisten der Anwesenden kannte ich oder hatte sie zumindest schon einmal gesehen: Mehmet Hayri Durmuş, Mazlum Doğan, Duran Kalkan, Ali Haydar Kaytan, Baki Karer, Resul Altınok, Şahin Dönmez, Ali Gündüz und einige weitere Bekannte. Andere kannte ich nicht. Karasungur war nicht da. Ich fragte nach dem Grund. Resul meinte: „Aus Sicherheitsgründen“

Einige der Freunde trafen erst gegen Mitternacht ein. Alle waren müde von der Fahrt. Die Versammlung sollte am kommenden Morgen beginnen. Wir wurden angewiesen, das Haus möglichst nicht zu verlassen. Die Freunde gingen nur in der Dunkelheit hinaus. Kesire und ich sollten uns auf keinen Fall im Dorf blicken lassen, weshalb wir das Haus überhaupt nicht verließen. Es wurde immer später und wir mussten wenigstens ein paar Stunden Schlaf finden. Kesire und ich schliefen in einem der Zimmer. Die Wärme des Ofens im Wohnzimmer reichte bis hierhin und direkt nebenan lag der Stall, der ebenfalls Wärme ausstrahlte.

Morgens begann der offizielle Gründungskongress. An den Wänden standen Holzbänke. Die Freunde, die auf den Bänken keinen Platz mehr gefunden hatten, saßen auf dem Boden. Vor Hayri und dem Vorsitzenden stand ein kleiner Tisch, auf dem der Programmentwurf mit der Überschrift „Den richtigen Weg begreifen", den wir alle bereits gelesen hatten, und einige andere Papiere lagen. Außerdem stand ein Aufnahmegerät auf dem Tisch. Alle Wortbeiträge sollten aufgenommen werden. Später wurde jedoch entschieden, aus Sicherheitsgründen nicht alles aufzuzeichnen. Es wurde auch nicht alles mitgeschrieben, darauf wurde geachtet. Der Vorsitzende sagte, ein anderer Genosse solle die Gesprächsführung übernehmen. Er schlug Hayri vor. Nachdem dieser Vorschlag angenommen worden war, begann der Gründungskongress unter der Leitung von Hayri.

Der Vorsitzende meldete sich als Erster zu Wort und hielt die Einleitungsrede. Zunächst verwies er auf die historische Bedeutung und Notwendigkeit der Versammlung. Dann erzählte er von den Bedingungen, unter denen der nationale Befreiungskampf entstanden war. Er sprach von der ideologischen Avantgarde, der Struktur der Organisation, den Grundlagen und dem Entwicklungsstand unseres Kampfes, der Situation der Kader, der Position des Feindes und seinen Angriffen. Mit klarer Stimme und in einer verständlichen Sprache redete er über die weltweite politische Lage und die verschiedenen Systeme. Manchmal stockte er und von Zeit zu Zeit hob er seinen Blick zur Decke, wo er einen Punkt mit den Augen fixierte.

Es herrschte eine sehr ernste Atmosphäre, die durch die Analyse des Vorsitzenden noch verstärkt wurde. Bereits bei früheren Versammlungen während seiner Rundreise durch Kurdistan hatte er über die politischen Entwicklungen gesprochen. Jetzt jedoch waren seine Ausführungen noch viel umfassender und tiefgreifender. Wieder einmal eröffneten sich mir neue Horizonte, während ich ihm zuhörte. Seine Worte motivierten uns, Teil der neuen Organisationsform zu werden, die dafür notwendigen Aufgaben zu erfüllen und der Verantwortung gerecht zu werden. Unter den in Kurdistan herrschenden Bedingungen mussten wir eine leninistische Organisation aufbauen. Der Vorsitzende hörte auch allen anderen Wortbeiträgen aufmerksam zu.

Später las Hayri den Programmentwurf und die Satzung vor. Es wurden kleine Änderungen vorgeschlagen. Vor allem Mazlum verfolgte dieses Thema aufmerksam. Nachdem Programm und Satzung angenommen worden waren, legten wir eine Pause ein. Die Versammlung hatte nicht mit einer Gedenkminute begonnen. Es war einfach vergessen worden. Einige der Freunde kritisierten das. Nach der Pause ging die Versammlung weiter. Wir durften keine Zeit verschwenden, denn es war riskant, dass sich so viele Genossen am gleichen Ort aufhielten. Die Tagesordnungspunkte wurden schnell nacheinander abgehandelt. Hayri erklärte, dass einige der Freunde nicht hatten kommen können. Er nannte Kemal Pir und Mehmet Karasungur. Da Kemal Pir im Gefängnis war, wurde er zum Ehrendelegierten ernannt.

Am meisten interessierten mich die Berichte aus den anderen Gebieten. Sie wurden mündlich von den jeweiligen Vertretern vorgetragen und von den anderen Freunden aus dem Gebiet ergänzt. Dann wurden sie von den Delegierten bewertet und teilweise kritisiert. Şahin meldete sich bei fast jedem Tagesordnungspunkt zu Wort und machte lange Ausführungen, die sich teilweise wiederholten. Er sprach noch mehr als der Vorsitzende. Die anderen Anwesenden reagierten bereits genervt, wenn er sich meldete. In einigen Berichten wurde von der Arbeitsweise gesprochen. Daraufhin teilte ich meine Meinung zu unserer Arbeit in Elazığ mit und verwies auf die Schwächen bei der Arbeit mit Frauen. Ich betonte, dass die Freunde sich nicht einmal bemühten, ihre Ehefrauen und Schwestern in die revolutionäre Arbeit einzubeziehen, sondern immer darauf warteten, dass eine Genossin komme und die Frauen organisiere. Vor allem bei den führenden Kadern war das ebenso erstaunlich wie verkehrt.

Resul lachte über meine Worte. Ich verstand den Grund dafür nicht. Entweder gefiel ihm meine Kritik oder er machte sich über mich lustig. Ich war verunsichert. Hatte ich etwas Falsches gesagt? Ich hatte mich auf diesen Redebeitrag nicht vorbereitet. Eigentlich wartete ich die ganze Zeit darauf, dass Kesire sich zu Wort meldete. Sie hatte mehr Erfahrung und Bewusstsein als ich. Sie hätte vor mir sprechen müssen, aber sie schwieg. Aus Respekt vor ihr hatte auch ich zunächst geschwiegen, während die einzelnen Tagesordnungspunkte abgehandelt wurden. Ihr Verhalten entmutigte mich.

Die meisten der anwesenden Freunde waren führende Kader, die die Inhalte der Diskussion beherrschten. Ich konnte mich nicht mit ihnen messen und sagte mir: „Diese Freunde tragen eine große Verantwortung, sie wissen, wovon sie sprechen und ihre Bewertungen sind dementsprechend umfassend und vielschichtig. Ich kann ja gar nichts Wesentliches beitragen, deshalb muss ich auch nichts sagen.“ Aber die Inhalte der Diskussion gingen schließlich uns alle etwas an, daher entschloss ich mich doch, mich zu Wort melden. Sollte Resul doch lachen und sich über mich lustig machen, davon wollte ich mich nicht aufhalten lassen.

Zu fortgeschrittener Stunde fiel der Blick des Vorsitzenden plötzlich auf Resul Altınok, der auf seinem Platz eingenickt war und sogar leise schnarchte. Er sah ihn so scharf an, dass wir alle seinem Blick folgten. Es war ein unmögliches Verhalten. Der Vorsitzende unterbrach seine Rede und sagte: „Es wird über immens wichtige Themen diskutiert und du schläfst hier wie ein Penner. Das geht nicht. Komm zu dir und benimm dich der Ernsthaftigkeit der Situation entsprechend!"

Nie zuvor hatte ich den Vorsitzenden so wütend gesehen. Es ging nicht nur darum, dass jemand eingenickt war, sondern um die Haltung, die darin zum Ausdruck kam. Dennoch wünschte ich mir, der Vorsitzende hätte nicht das Wort „Penner" benutzt. Es war sehr schnell gegangen und jetzt herrschte für einen kurzen Moment Stille. Bevor der Vorsitzende weitersprach, meldete Mazlum sich zu Wort. Alle sahen ihn überrascht an. Mazlum sagte: „Es ist wichtig, mit der notwendigen Ernsthaftigkeit und einem entsprechenden Verantwortungsbewusstsein an dieser Versammlung teilzunehmen. Daher ist die Verwarnung gerechtfertigt. Ich kritisiere jedoch den Genossen Abdullah für seine Wortwahl. Bestimmte Wörter sollten besser nicht verwendet werden."

Auch das war erstaunlich. Mazlum verhielt sich verantwortlich und äußerte seine Kritik respektvoll, dennoch fühlte ich mich merkwürdig. Es war mir irgendwie unangenehm. Er hatte zwar Recht, aber er hatte den Vorsitzenden kritisiert! Später in Elazığ sprach ich lange mit Cemil darüber. Es entsprach Mazlums Charakter, im Rahmen seiner revolutionären Verantwortung auf genossenschaftliche Weise Kritik auszusprechen, gleichgültig wo er sich befand und um wen es dabei ging. Gerade dieser Wesenszug machte seine feste Bindung zum Vorsitzenden aus. Die beiden ergänzten sich auf diese Weise.

Der Vorsitzende hörte Mazlum aufmerksam zu und sagte ruhig: „In Ordnung, die Kritik ist gerechtfertigt, ich werde darauf achten." Dann wandte er sich wieder dem eigentlichen Thema zu.

Ich hatte in Elazığ einige meiner Gedanken zu den Erfahrungen aus anderen Befreiungskämpfen aufgeschrieben. Sowohl in Vietnam als auch in Bulgarien hatte es Fraueneinheiten gegeben. Mit Meral hatte ich viel über die Frauenbewegung diskutiert und sogar einen Text mit der Überschrift „Der Platz und die Bedeutung von Frauen im nationalen Befreiungskampf" geschrieben.

Merals häufig harte Kritik am patriarchalen Verhalten der Freunde im Alltagsleben war in gewisser Weise positiv und gerechtfertigt, aber nicht immer realistisch. Sie selbst verhielt sich manchmal dem eigenen Geschlecht gegenüber sektiererisch. Wir hatten uns in Elazığ ein breites Umfeld aufgebaut und hatten direkten Kontakt zu über hundert Frauen. Viele weitere Frauen waren von unserem Kampf beeindruckt. Die Frauen in Elazığ zeichneten sich im Allgemeinen durch ihre Streitbarkeit und Aufsässigkeit aus.

Wir sagten uns, dass wir diese Frauen leicht mobilisieren konnten. Meral hatte jedoch halb im Scherz unter unseren Entwurf zum Aufbau von Fraueneinheiten „Nieder mit dem männlichen Imperialismus" geschrieben. Als Cemil das las, war er überrascht. Jetzt verstand er besser, worum es uns ging, wenn er sagte „Wir sind müde, macht doch mal einen Tee" und wir mit den Worten reagierten: „Mach den Tee doch selbst." Unsere Reaktionen waren teilweise extrem. Wir waren noch auf der Suche nach dem richtigen Standpunkt.

In meinen Notizen war ich auch auf den Aufbau von Propaganda- und Aktionseinheiten eingegangen. Jetzt lief die Diskussion auf der Versammlung weiter, aber ich sah mich nicht in der Lage, mich zu Wort zu melden und meine Meinung dazu zu sagen. In der Pause ging ich in das andere Zimmer, rief Kesire zu mir und reichte ihr meinen Notizzettel: „Das ist ein Entwurf, den ich in Elazığ geschrieben habe. Es sind auch Vorschläge enthalten. Ich konnte die ganze Zeit nichts dazu sagen. Schau doch mal, wenn du es passend findest, werde ich das erläutern."

Sie las den Text und meinte: „Deine Gedanken sind gut, aber ist es dafür nicht noch zu früh? Haben wir genug Kraft, um solche Einheiten aufzubauen?" - „Die haben wir. Das wird sich entwickeln. Zumindest in Dersim, Elazığ und Bingöl, wo sich viele Frauen beteiligen, ist es möglich. Wahrscheinlich auch in Amed", antwortete ich.

Als die Versammlung weiterging, war ich immer noch unentschlossen. Kesires Frage, ob es dafür nicht zu früh sei, ging mir nicht aus dem Kopf. Ich hatte einfach nicht genug Mut, mich zu melden. Kesire hatte jedoch auch gesagt, dass der Gedanke gut sei. Ich wünschte mir, sie würde selbst sprechen. Aber nein, ihre Lippen blieben fest verschlossen. Sie sagte zu keinem einzigen Thema etwas.

Şahin hingegen redete ständig, als ob es darum gehe, eine Gelegenheit nicht zu verpassen. Leise sagte ich zu Kesire, die neben mir saß: „Er redet so viel, müsste man ihn nicht stoppen?" Auch unter den Freunden war manchmal ein Murren zu hören. Niemand sagte es laut, aber alle dachten: „Es reicht, wir wollen dir nicht mehr zuhören." Es war allen unangenehm, dass Şahin sich zu jedem Thema ausließ und dabei die Ausführungen des Vorsitzenden in eigenen Worten wiederholte. Der Vorsitzende reagierte jedoch anders als der Rest. In aller Ruhe hörte er Şahin an. Ich versuchte zu begreifen, was hinter diesem ehrgeizigen Verhalten steckte. Eigentlich war es klar: Was ihn vorantrieb, war einfach nur Karrierismus.

Schließlich stand die Wahl des Zentralkomitees an. Der Vorsitzende wurde einstimmig zum Generalsekretär gewählt. Anschließend wurden Freunde für das Komitee vorgeschlagen. Die meisten lehnten aus Bescheidenheit ab, nicht jedoch ohne hinzuzufügen, dass sie „die Vorschläge und Beschlüsse der Freunde respektieren" würden.

Bescheidenheit war ja an sich eine gute Sache, aber jetzt wurde übertrieben. Niemand von den führenden Kadern betrachtete sich selbst als würdig für diese Aufgabe. Alle wollten anderen den Vortritt lassen. Dadurch entstand eine gedrückte Atmosphäre und kurzzeitig herrschte Schweigen. Letztendlich wurde Şahin vorgeschlagen und Karasungur war ja ohnehin nicht anwesend. Somit wurden diese beiden in die Exekutive gewählt. Es wurde vorgeschlagen, die Anzahl der Mitglieder noch zu vergrößern. Dieser Vorschlag wurde auf die erste Sitzung des Zentralkomitees vertagt.

Es wurde auch über den Namen der Partei diskutiert. Von mehreren Vorschlägen wurde schließlich PKK (Partiya Karkerên Kurdistan) angenommen. Jetzt hatten wir also endlich einen Namen, worüber wir uns sehr freuten. Die Freude und Aufregung darüber sorgte für Bewegung auf der Versammlung. Es wurde auch noch kurz über die Fahne der Partei und ähnliches diskutiert und beschlossen, mit einer Deklaration die Parteigründung zu erklären. Die Versammlung dauerte zwei Tage. Danach fuhren alle Teilnehmenden gruppenweise ab.

[album=18050]

Sakine Cansız (Sara), 12. Februar 1958 - 9. Januar 2013

Sakine Cansız kam in Dersim als Kind einer kurdisch-alevitischen Familie zur Welt. Diese beiden in der Republik Türkei diskriminierten Identitätsmerkmale verteidigte sie immer und unter allen Umständen. Sie nahm am PKK-Gründungskongress am 27. November 1978 teil und war das erste Mitglied der Frauenpartei, die heute aus Tausenden Mitgliedern besteht. In Elazığ und Bingöl beteiligte sie sich an der Organisierungsarbeit der PKK. Nach dem Militärputsch am 12. September 1980 wurde sie verhaftet und verbrachte viele Jahre im berüchtigten Gefängnis von Diyarbakir, wo sie dem für die unmenschliche Folter verantwortlichen Militärkommandanten Esat Oktay Yıldıran ins Gesicht spuckte und durch ihren Widerstand zur lebenden Legende wurde. Sie war auch die erste Frau im kurdischen Befreiungskampf, die eine politische Verteidigung vor Gericht vorlegte.

Nach zwölf Jahren Haft setzte sie ihren Kampf in verschiedenen Bereichen fort. 1995 nahm sie am ersten kurdischen Frauenkongress teil, der Grundlage für die Bildung einer Frauenpartei war. Sie war auch dabei, als die ersten Frauenguerillaeinheiten gebildet wurden. In ihrem über dreißigjährigem Kampf war sie Guerillakommandantin, Frauenrechtlerin, Lehrerin im Camp Mexmûr, Führungskraft der PKK, Lehrende an Akademien und eine Diplomatin, die sich dafür einsetzte, den kurdischen Befreiungskampf auf der ganzen Welt bekannt zu machen. Aber alle, die sie kannten, definierten sie vor allem als eine Genossin und Weggefährtin. Gleichzeitig war sie das lebende Gedächtnis des kurdischen und Frauenbefreiungskampfes.

Sakine Cansız wurde am 9. Januar 2013 zusammen mit Fidan Doğan (Rojbîn) und Leyla Şaylemez (Ronahî) von einem Auftragsmörder des türkischen Geheimdienstes MIT im Kurdischen Informationszentrum in Paris ermordet. Bis heute ist niemand für das Attentat zur Rechenschaft gezogen worden.

Muzaffer Ayata, ein langjähriger Weggefährte von Sakine Cansız, schrieb kurz nach dem Mord: „Sakine verkörperte den Widerstand kurdischer Frauen. Ihre Verbundenheit mit ihren Genoss:innen war selbstlos und ohne jede Berechnung. Mit dieser Einstellung war sie wie die Seele unseres Kampfes. Diese Seele wollten sie töten. Aber das wird ihnen niemals gelingen. Auch der Anschlag in Paris wird unsere Bewegung und unser Volk nicht schwächen können. Vielmehr bietet er den Anlass, den Kampf verstärkt fortzuführen.“