Sozialismus als gelebte Ethik
„Ergebnisse erzielen wir nur durch ein sozialistisches Leben“ – mit dieser programmatischen Aussage eröffnete Sozdar Avesta, Mitglied des Präsidialrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), ihre Rede auf dem 12. Kongress der PKK. Ihre Ausführungen verbanden persönliche Verortung, ideengeschichtliche Reflexion und politische Strategie zu einem klaren Plädoyer für eine gesellschaftliche Transformation, die weit über institutionelle Reformen hinausgeht.
Avesta betonte, dass Abdullah Öcalans politische Linie – insbesondere sein Verständnis von Sozialismus, Geschlechtergerechtigkeit und demokratischer Gesellschaft – in der kurdischen Freiheitsbewegung nicht nur ideologisch behauptet, sondern praktisch verkörpert wurden. Die Bewegung stehe nun an einem historischen Punkt der Neuformulierung, an dem es gelte, diese Prinzipien noch entschiedener in kollektives Handeln zu übersetzen.
Gedenken an die Gefallenen
Zu Beginn ihrer Rede gedachte Avesta der Gefallenen der kurdischen Freiheitsbewegung – von Haki Karer, Mazlum Doğan, Sakine Cansız, Ali Haydar Kaytan und Rıza Altun bis hin zu den kürzlich gefallenen Kämpfer:innen Besê, Mîtra und Gabar – und stellte ihre Ausführungen in den Kontext eines seit Jahrzehnten andauernden Kampfes: „Seit 52 Jahren, einem Monat und 15 Tagen ist Öcalan Gründer, Vordenker und Seele dieser Bewegung. Sein Verständnis von Sozialismus, Gleichheit und Demokratisierung blieb nie auf der Ebene des Diskurses – es wurde zur praktischen Realität.“
Der langjährige bewaffnete Kampf habe neue Formen des Widerstands hervorgebracht, insbesondere im Zuge des Kampfes in den Kriegstunneln, so Avesta. Zugleich verwies sie auf die tiefgreifende gesellschaftliche Mobilisierung, etwa im Rahmen von internationalen Kampagnen für Öcalans Freilassung, die den Durchbruch seiner Isolation auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali überhaupt erst möglich gemacht habe.
Frauenbefreiung als strategisches Prinzip
Ein besonderer Fokus ihrer Analyse lag auf der feministischen Dimension des neuen Paradigmas. Avesta hob hervor, dass der Aufbau einer eigenständigen Frauenarmee im Jahr 1993 nicht lediglich ein struktureller Schritt, sondern ein Wendepunkt in der politischen Philosophie der Bewegung gewesen sei: „Ein bewaffneter Kampf kann nur dann wirksam sein, wenn er nicht in traditionellen Mustern verbleibt. Er muss Orte schaffen, an denen Frauen Subjekt, Entscheidungsträgerinnen und Trägerinnen kollektiver Rechte sind.“
Die Etablierung von Geschlechtergerechtigkeit sei – so Avesta – nicht eine Folge, sondern die Voraussetzung für gesellschaftlichen Fortschritt. In der Praxis der PKK habe sich dies nicht nur in der Organisationsstruktur, sondern auch in der Alltagskultur und den ethischen Leitlinien niedergeschlagen.
Sozialismus als gelebte Ethik
Avesta zitierte Abdullah Öcalan mit den Worten: „Ich lebe hier als Sozialist.“ Damit verwies sie auf eine zentrale Maxime seiner politischen Haltung – die Verweigerung privater Machtakkumulation zugunsten eines kollektiv orientierten Lebensmodells. Der Kampf für die Befreiung sei daher nicht nur ein Widerstand gegen äußere Herrschaft, sondern ein inneres Projekt der ethischen Selbstformung. „Ein echtes Ergebnis kann nur erzielt werden, wenn wir eine sozialistische, kommunale Lebensweise etablieren – mit tiefer zwischenmenschlicher Verbundenheit und gemeinschaftlichem Verantwortungsbewusstsein“, sagte Avesta.
„Apoismus“ als Haltung
In einem persönlichen Abschnitt ihrer Rede reflektierte Sozdar Avesta, was es bedeute, Teil der apoistischen Bewegung – also der politischen und moralischen Linie Abdullah Öcalans – zu sein. Apoismus bedeute nicht Loyalität im herkömmlichen Sinne, sondern die tägliche Entscheidung für Wahrhaftigkeit, Integrität und solidarisches Handeln. „Apoist:in zu sein bedeutet, ein:e ehrliche:r, wahre:r, aktive:r Weggefährt:in zu sein – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es bedeutet, im Ozean dieser Bewegung wenigstens ein Tropfen zu sein, der sich einfügt.“
Sie verwies dabei auf die Rolle von Ideengeschichte und kollektiver Erinnerung, um deutlich zu machen, dass politische Identifikation immer auch eine Frage gelebter Praxis sei – nicht allein theoretischer Bekenntnisse.
Eine Revolution des Alltags
Zum Abschluss ihrer Rede formulierte Sozdar Avesta ein Zukunftsbild, das sich nicht auf politische Programme beschränkt, sondern im gelebten Alltag beginnt. Die kommenden Aufgaben seien nur durch die Verbindung von sozialer Praxis, ethischem Bewusstsein und kollektiver Organisierung zu bewältigen. „Der große Gedanke muss nun in volle Organisation überführt werden. Und diese Organisation beginnt bei uns selbst – in der Art, wie wir leben, wie wir lieben, wie wir Verantwortung füreinander tragen.“