Dialog mit Sakine Cansız

Sakine Cansız hat Vertrauen ausgestrahlt und Maßstäbe gesetzt. Sie hat keine Frau fallen gelassen. Wer mit ihr in Kontakt kam, wurde unweigerlich zu einer Weggefährtin. Ich führe immer noch Dialoge mit ihr.

Als Sakine Cansız in Paris ermordet wurde, sagte Abullah Öcalan, dass es keinen Unterschied mache, ob er oder sie getroffen wurde, die Botschaft sei die gleiche. Inzwischen sind neun Jahre vergangen. Ich führe immer noch Dialoge mit ihr. Sie sind kürzer geworden im Laufe der Jahre. Oft reicht schon ein Blick auf das Foto von ihr an der Wand, um zu wissen, wie sie eine Frage beantwortet hätte. Meistens weiß ich sofort, dass sie Recht hat. Manchmal gucke ich weg, um ihrer Kritik zu entgehen.

Sie greift also immer noch ein, ist präsent in den Herzen und Köpfen der Menschen, die sie berührt hat. Sie argumentiert und gibt die Richtung vor in ihrem Kampf für Kurdistan, für die Frauen, die Menschheit. Nach dem Mord an Sakine, Fidan und Leyla gab es viele Frauen, die neben der kollektiv empfundenen Wut auch den persönlichen Verlust zur Sprache brachten. Sakine Cansız hat Vertrauen ausgestrahlt und Maßstäbe gesetzt. Sie hat keine Frau fallen gelassen. Wer mit ihr in Kontakt kam, wurde unweigerlich zu einer Weggefährtin. Und sie war Abdullah Öcalans Kampfgefährtin.

Sakines Indikator war Freiheit. Das war der ausschlaggebende Faktor, nach dem sie die Dinge bewertete, sie anziehend fand oder ablehnte. Die kurdische Befreiungsbewegung war für sie vielleicht genau das: Etwas Bewegliches, Lebendiges, ein ständiger Kampf wie ihr ganzes Leben. Groß, dynamisch, mit Grundsätzen, mit Liebe zum Leben, zu den Menschen, zum eigenen Ich. Eine Bewegung so groß wie die ganze Welt, in der kein Beitrag zu klein oder unwichtig ist. An der pausenlos gewebt wird. Die umarmt und nicht ausschließt. In der jeder Mensch zählt und niemand zurückgelassen wird. Die von mutigen Menschen getragen wird, von Entschlossenheit, von einem Bewusstsein, das von keiner Macht der Welt wieder rückgängig gemacht werden kann. Von Frauen, die Freiheit gerochen haben. Von der Befreiung der Köpfe, der mentalen Revolution.

Diese Bewegung hat Sakine Cansız mitbegründet und geprägt. Dafür hat sie gekämpft, mit sich selbst, gegen den Feind, gegen reaktionäres und lebensfeindliches Denken. Dafür ist sie ermordet worden. Und dafür sind nach ihr Tausende Frauen aufgestanden und haben gesagt: Jetzt erst recht. Jetzt nehme ich das Mikrofon und gehe auf die Menschen zu, jetzt stellen wir uns alle hin mit aufrechter Haltung, mit Würde und Selbstbewusstsein, mit unserer Wut und unserem Mut.

Individuelle Ängste, Zögern, Bequemlichkeit traten in den Hintergrund. Jetzt galt es, Sakines Erbe anzutreten. Vielleicht hat uns die Situation keine andere Wahl gelassen. Ein Teil dieses Erbes ist die Entschlossenheit, niemals aufzugeben, sich nicht brechen zu lassen. Das Ziel ist immer eine Lösung, das Handeln ist konstruktiv, zielgerichtet, lösungsorientiert, wach, offen, interessiert, liebevoll, konzentriert. Es ist wie Sakine Cansız. Es ist das, was wir daraus machen. Was erkämpft wird. Etwas, das nicht besiegt werden kann.

„Wir sind etwas, das ihr nicht töten könnt. Wir sind Hoffnung.“ Diese Definition der Frauenrevolution von Rojava ist ebenfalls das Erbe von Sakine Cansız. Sie war eine der mutigen Frauen, die den Grundstein gelegt haben. Dafür können wir dankbar sein, aber das wäre für Sakine nebensächlich. Was zählt, ist das Ergebnis. Jede Frau, jeder Mensch, der die Fesseln im eigenen Denken sprengt, ist ein Gewinn, ein Erfolg, in dem Sakine Cansız weiterlebt.

Sakine steht für die erste PKK-Generation. Sie ist wie die Hexen, die nicht verbrannt werden konnten, und deren Enkelinnen heute mit einem neuen Selbstbewusstsein auf die Straße gehen und präsent sind. Die Maßstäbe setzen und sich auf die eigene Kraft konzentrieren. Die als YPJ den IS besiegt haben. Die als YJA Star in den Bergen die zweitgrößte NATO-Armee aufhalten und die Besatzung Südkurdistans verhindern. Die in den Gefängnissen Widerstand leisten und für ihre und unsere Würde kämpfen. Für die das Unmögliche unverzichtbar und Kapitulation keine Option ist. Die keine Welt zu verlieren haben, aber eine Welt zu gewinnen.


Sakine Cansız (Sara) kam im Winter 1958 in einem Dorf in Dersim als Kind einer kurdisch-alevitischen Familie zur Welt und schloss sich der kurdischen Befreiungsbewegung in einer Zeit an, als diese sich gerade erst formierte. Sie nahm am PKK-Gründungskongress im Jahr 1978 teil und gehörte zu den fünf noch lebenden Gründungsmitgliedern. Bis zur ihrer Verhaftung 1979 arbeitete sie in Nordkurdistan und der Türkei daran, eine Frauenbewegung aufzubauen. Im berüchtigten Foltergefängnis Diyarbakır (ku. Amed) spuckte sie dem verantwortlichen Militärkommandanten Esat Oktay Yıldıran ins Gesicht und wurde durch ihren Widerstand zur lebenden Legende. Sie war auch die erste Frau im kurdischen Befreiungskampf, die eine politische Verteidigung vor Gericht vorlegte. Nach zwölf Jahren Haft setzte sie ihren Kampf in verschiedenen Bereichen fort. 1995 nahm sie am ersten kurdischen Frauenkongress teil, der Grundlage für die Bildung einer Frauenpartei war. Sie war auch dabei, als die ersten Frauenguerillaeinheiten gebildet wurden. In ihrem über dreißigjährigem Kampf war sie Guerillakommandantin, Frauenrechtlerin, Lehrerin im Flüchtlingslager Mexmûr, Führungskraft der PKK, Lehrende an Akademien und eine Diplomatin, die sich dafür einsetzte, den kurdischen Befreiungskampf auf der ganzen Welt bekannt zu machen. Aber alle, die sie kannten, definierten sie vor allem als eine Genossin und Weggefährtin. Gleichzeitig war sie das lebende Gedächtnis des kurdischen und Frauenbefreiungskampfes. Ihre Biografie „Mein ganzes Leben war ein Kampf“ wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Sakine Cansız wurde am 9. Januar 2013 zusammen mit Fidan Doğan und Leyla Şaylemez von einem Auftragsmörder des türkischen Geheimdienst MIT in Paris erschossen. Bis heute wurden ihre Mörder nicht zur Rechenschaft gezogen.