„Ich bin verliebt in diesen Kampf“
Der dritte Band des Buches „Mein ganzes Leben war ein Kampf“ von Sakine Cansız ist auf Deutsch erschienen.
Der dritte Band des Buches „Mein ganzes Leben war ein Kampf“ von Sakine Cansız ist auf Deutsch erschienen.
Vor fünf Jahren, am 9. Januar 2013, wurde die kurdische Revolutionärin Sakine Cansız zusammen mit ihren Freundinnen Fidan Doğan und Leyla Şaylemez in Paris vom türkischen Geheimdienst MIT ermordet. Jetzt ist der dritte Band der Biographie von Sakine Cansız im Verlag Mezopotamien auf Deutsch erschienen.
Wir haben mit Agnes v. Alvensleben und Anja Flach gesprochen, die alle drei Bände aus dem türkischsprachigen Original in die deutsche Sprache übersetzt haben.
Wie seid ihr auf die Idee gekommen, das Buch „Mein ganzes Leben war ein Kampf“ von Sakine Cansız zu übersetzen?
Agnes: Die Idee entstand, als ein Jahr nach Sakines Tod eine Neuauflage des ersten Bandes der türkischen Ausgabe erschien. Ich blätterte das Buch durch und dachte sofort, dass es weiter verbreitet werden sollte. Wir beide haben Sakine gekannt und hier in Hamburg mit ihr zusammengearbeitet. Die Morde in Paris waren für uns alle unfassbar. Wie in vielen anderen Städten auch haben wir als Frauenrat Rojbîn in Hamburg wöchentliche Kundgebungen abgehalten, auf denen wir eine lückenlose Aufklärung der Morde von Paris gefordert haben. Viele Frauen haben in dieser Zeit erstmals in der Öffentlichkeit ein Mikrofon in die Hand genommen und geredet. Auch nach ihrem Tod hat Sakine also immer noch Einfluss auf die Weiterentwicklung von Frauen gehabt.
Anja: Ihr Buch ist vor allem für die kurdische Frauenbewegung ein wertvolles Zeitdokument. Sakine wurde in den 1990er Jahren von Abdullah Öcalan dazu aufgefordert, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben. Es ist ein Segen, dass sie diese von ihr teilweise ungeliebte Aufgabe tatsächlich übernommen hat, denn ihr Buch zeigt auf, wie die kurdische Frauenbewegung entstanden ist und wie sie sich entwickelt hat.
Ihr habt mit mehreren Frauen an dem Buch gearbeitet, wie lange hat es gedauert?
Anja: Die Übersetzungsarbeit hat allein Agnes gemacht, ich kann ja auch gar kein Türkisch. Ich habe den Text lektoriert, also sprachlich überarbeitet und an einigen Stellen Fußnoten eingefügt, um den Text für Menschen ohne kurdischen Hintergrund oder Kenntnissen dieser Zeit verständlicher zu machen. Zuletzt hat noch Anita Friedetzky, eine Journalistin, Übersetzerin und Autorin, die hoffentlich letzten Tipp- und Rechtschreibfehler korrigiert.
Agnes: Ohne diese Teamarbeit wäre die Übersetzung für mich gar nicht machbar gewesen. Wir haben sehr viel miteinander diskutiert. Gerade beim dritten Band, der von Sakines Zeit an der Parteiakademie und in den Bergen handelt, war Anja unersetzlich, weil sie zur gleichen Zeit wie Sakine dort gewesen ist und daher einen ganz anderen Einblick in die damaligen Gegebenheiten hat. Es gibt auch noch weitere Freundinnen und Freunde, die an der Übersetzung mitgewirkt haben. Mehmet Zahit Ekinci hat mir zum Beispiel oft die Bedeutung bestimmter Redewendungen erklärt. Wir haben auch alte Freunde von Sakine wie Fuat Kav und FerdaÇetin mehrmals um Rat gefragt. Annett Bender hat schließlich das Layout sehr liebevoll gestaltet.
Anja: Wir haben für jeden Band einschließlich Korrekturen, Layout und Druck jeweils ein knappes Jahr gebraucht.
Agnes: Das Buch ist aus der deutschen Fassung zeitgleich in die italienische Sprache übersetzt worden. Auch in Italien sind alle drei Bände bereits erschienen. Es gibt auch englische und spanische Übersetzungen.
Was waren die Schwierigkeiten bei der Übersetzung?
Agnes: Es war das erste Mal, dass ich ein Buch übersetzt habe. Und es ist ja nicht irgendein Buch, sondern die Lebensgeschichte von Sakine Cansız, die auch in meinem Leben eine besondere Rolle gespielt hat. Sprachliche Verständnisprobleme ließen sich durch die Unterstützung anderer bewältigen, aber ich hatte auch emotionale Schwierigkeiten. Zum Beispiel hatte ich gegen Ende der Übersetzung das Gefühl, Sakine endgültig zu verlieren. Inzwischen weiß ich natürlich, dass es nicht so ist, aber es war für mich sehr wertvoll, mich drei Jahre lang mit Sakine auseinanderzusetzen. Ich habe mit ihr zusammen Glück, Wut, Traurigkeit, Empörung, Hass und Freude empfunden. Eigentlich habe ich die ganze Zeit Dialoge mit ihr geführt. Die größte Schwierigkeit war wohl der Anspruch, Sakine gerecht werden zu wollen. Und das geht nur, wenn man ihren Kampf tatsächlich weiterführt. Sie selbst sagt an einer Stelle im Buch: „Ich bin verliebt in diesen Kampf.“
Welche Wirkung hat das Buch auf euch gehabt?
Anja: Für mich war es ein großes Glück, Sakine Cansız' Erfahrungen nun selbst lesen zu können. Ich habe sie 1995 im Zap getroffen und dort mit eigenen Augen gesehen, unter welch schwierigen Bedingungen sie an dem Buch arbeitete. Es war Winter, sie schrieb auf einer klapprigen alten Schreibmaschine und einige Männer wie Şemdin Sakık oder Osman Öcalan versuchten, ihre Moral durch verbale Attacken zu unterminieren. Auch Hamili Yıldırım kannte ich gut, er war Kommandant meiner Einheit, als wir damals ins Land gingen. Er war ziemlich von sich selbst eingenommen und hatte schon in der Zentralen Parteischule schlecht über Sakine gesprochen, was mehr über ihn selbst aussagte, als über sie. Sie hatte einen sehr schweren Stand. Mitte der 1990er Jahre wurde die Frauenbewegung stark, aber einige Männer versuchten, einzelne Frauen zu attackieren, insbesondere die Frauen, die sich ihnen nicht unterordneten. Es wurde versucht, Frauen aus der Guerilla auszuschließen, ihnen die Schuld an allen Problemen zu geben, sie zu spalten. Sakine, als zentrale Persönlichkeit des Gefängniswiderstandes, wurde zur Zielscheibe zahlreicher Attacken. Sie war ein sehr emotionaler Mensch und im dritten Band beschreibt sie diese schwierige Phase. Wie auch schon in den ersten beiden Bänden schreibt sie sehr offen über ihre eigenen Fehler und Probleme. Das ist beeindruckend, aber auch teilweise schwer auszuhalten. Diesen dritten Band hat sie mit wenig zeitlichem Abstand zu den Ereignissen geschrieben. Vielleicht stehen negative Erfahrungen daher manchmal zu sehr im Vordergrund. Aus Interviews und Gesprächen mit ihr weiß ich, wie sehr sie die Frauen und das Guerillaleben geliebt hat. Aber sie schreibt eher über die schwierigen Zeiten, die sie erlebte. Der dritte Band ist wahrscheinlich für europäische Leser*innen manchmal schwierig zu verstehen. Die Methode der Kritik und Selbstkritik in der Persönlichkeitsfrage sind kein Teil linker deutscher Praxis. Auch für mich war es, als ich 1995 in die Zentrale Parteischule kam, eine ganz neue Erfahrung. Zunächst war ich erschrocken, dass sich erfahrene Kommandant*innen vor einer Plattform einfacher Kämpfer*innen so harter Kritik stellen mussten. Ich hatte fast Mitleid mit ihnen. Dieser Umwandlungsprozess steht in allen Lebens- und Arbeitsbereichen der PKK im Vordergrund, sei es innerhalb der Guerilla, in der Arbeit mit der Bevölkerung oder in der Leitung. Ziel ist eine Persönlichkeit, die wirklich die Werte der PKK vertritt und damit zum Vorbild für die Bevölkerung wird. Das ist ein schmerzhafter Prozess.
Sakine war eine wundervolle Frau. Hier in Europa hat sie ständig versucht, weitere Menschen in die Arbeit einzubinden. Sie war auch eine große Internationalistin. Als sie in Hamburg in Auslieferungshaft kam, sind viele verschiedene Menschen auf die Straße gegangen. Daran sah man, welch großen Eindruck sie bei den Menschen hinterlassen hatte. Es macht mich unglaublich wütend, dass die europäischen Staaten sich aus wirtschaftlichen und strategischen Interessen davor drücken, die Morde des türkischen Staates an Sakine Cansız, Leyla Şaylemez und Fidan Doğan aufzuklären. Dieses Verbrechen darf nicht ungesühnt bleiben. Wie schon Martin Luther King sagte: „Ungerechtigkeit an irgendeinem Ort bedroht die Gerechtigkeit an jedem anderen.“
Agnes: Übersetzen heißt, in die Wörter einzutauchen und sie emotional zu verstehen, bevor sie in einer anderen Sprache ausgedrückt werden können. Für mich hat es bedeutet, Sakines Stimme zu hören und ihren Gesichtsausdruck vor Augen zu haben. Wer sich intensiv mit Sakine beschäftigt, wird von ihrer unbeirrbaren Entschlossenheit angesteckt. Sakine hat niemals aufgegeben. Von ihr lernt man auch, dass das Leben schöner ist, wenn wir aufmerksam und liebevoll miteinander umgehen.
Anja: In naher Zukunft werden noch weitere Bücher auf Deutsch erscheinen, so zum Beispiel das Tagebuch von Gurbetelli Ersöz, das auch Agnes übersetzt hat, und eines der Bücher von Halil Uysal. Alle sind in derselben Phase geschrieben worden, Mitte der 1990er Jahre. Viele Personen, die in den Büchern beschrieben werden, kannte ich persönlich. Es ist sehr interessant für mich, eine Phase, die ich selbst erlebt habe, mit ihren Augen zu sehen, zumal mein Kurdisch damals noch nicht sehr gut war und ich vieles nicht verstand. Ich brannte damals schon darauf, die Bücher von Sakine zu lesen. Ich konnte nicht verstehen, warum sie nicht in großer Auflage und vielen Sprachen verbreitet wurden. Damals wurden nur einige wenige Exemplare gedruckt, die dann auch schnell vergriffen waren. Auf der anderen Seite ist es natürlich wunderbar, dass Abdullah Öcalan sie gebeten hatte, ihre Erfahrungen aufzuschreiben, denn so können wir nun noch die Parteigeschichte mit den Augen einer der wichtigsten weiblichen Protagonistinnen erleben. Das ist ein sehr großes Geschenk.
Wie wird das Buch vertrieben?
Agnes: Alle drei Bände werden vom Verlag Mezopotamien herausgegeben und können außerdem über das kurdische Frauenbüro CENÎ und die Informationsstelle Kurdistan (ISKU) bestellt werden. Die ersten beiden Bände sind in mehreren Städten auf Veranstaltungen vorgestellt worden. In Hamburg werden wir am 10. Januar mit dem Frauenrat Rojbîn und der Kampagne TATORT KURDISTAN eine Lesung im Gedenken an Sakine, Fidan und Leyla veranstalten.