Der Menschenrechtsausschuss der Interparlamentarischen Union (IPU) ist weiterhin besorgt über das mögliche Verbot der Demokratischen Partei der Völker (HDP) in der Türkei. Sollte die HDP tatsächlich aufgelöst werden, würden ihre Parlamentarierinnen und Parlamentarier nicht nur ihres Rechts auf Teilnahme am öffentlichen Leben beraubt werden, sondern auch der Vertretung ihrer Wählerschaft in der türkischen Nationalversammlung, geht aus einem Beschluss hervor, der diese Woche im Rahmen der 144. IPU-Versammlung im indonesischen Nusa Dua thematisiert wurde. Als internationale Vereinigung von Parlamenten ist die 1889 gegründete IPU ein weltweites Forum für parlamentarischen Dialog in enger Kooperation mit den Vereinten Nationen. Ihre Ziele sind Friedenssicherung, Wahrung der Menschenrechte und Förderung des Demokratieverständnisses. Die HDP wird in der türkischen Delegation von Hişyar Özsoy vertreten.
HDP „zu Unrecht“ als PKK-Ableger kriminalisiert
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in seiner Rechtsprechung ausdrücklich die herausragende Rolle unterstrichen, die politische Parteien in einem demokratischen Regierungssystem spielen. „Die Auflösung oder das Verbot einer Partei betrachtet der Gerichtshof als eine extreme Maßnahme, die nur unter sehr außergewöhnlichen Umständen als letzter Ausweg gerechtfertigt ist“, mahnt der IPU-Ausschuss. Zu solchen Umständen gehört etwa eine direkte Verbindung zwischen einer politischen Partei und den kriminellen Handlungen einer Terrororganisation, die von einem unabhängigen Gericht nachgewiesen wurde. Bei der HDP ist dies nicht der Fall. Die türkische Regierung wirft ihr lediglich vor, eine Vorfeldorganisation der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu sein. „Zu Unrecht“, unterstreicht die IPU.
Die IPU untersuchte bisher die Situation von 64 derzeitigen und früheren HDP-Abgeordneten. Dabei wurde festgestellt, dass seit der umstrittenen Verfassungsänderung für die Aufhebung der parlamentarischen Immunität im Mai 2016 rund 600 Anklagen gegen gewählte Mandatsträgerinnen und -träger erhoben worden sind. Die Vorwürfe lauten auf Terrorismus, Präsidentenbeleidigung oder Herabsetzung des Staates und seiner Organe. Landesweit sind weiterhin hunderte Verfahren gegen aktuelle und ehemalige HDP-Abgeordnete anhängig. Seit 2018 sind über 30 Parlamentarier:innen zu Haftstrafen verurteilt worden. Seit dem 4. November 2016 wurden zahlreiche Abgeordnete inhaftiert, andere sind ins Exil gegangen. Elf gewählte Parlamentsmitglieder befinden sich derzeit im Gefängnis, nämlich die ehemaligen Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ sowie Gülser Yildirim, Idris Baluken, Leyla Güven, Musa Farisoğulları, Gültan Kışanak, Sebahat Tuncel, Aysel Tuğluk, Ayla Akat Ata und Nazmi Gür. | Foto: Demonstration gegen Putsch im Parlament, November 2016 in Istanbul
Parteiverbote gehören in der Türkei zur Tradition
In der Türkei ist die Schließung von politischen Parteien, insbesondere von pro-kurdischen Parteien, historisch nicht außergewöhnlich. Es gibt verschiedene Urteile gegen die Türkei, darunter im Fall der HADEP und HEP, in denen die Auflösung einer Partei als Bruch mit der Europäischen Menschenrechtskonvention angesehen wird. Dies dürfte auch bei einem Verbot der HDP der Fall sein. „Die IPU fordert die türkischen Behörden daher nachdrücklich auf, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um ihren Verpflichtungen aus der Menschenrechtskonvention in diesem Bereich nachzukommen.“
Unterdrückung der politischen Opposition
Der Ausschuss nimmt auch mit Besorgnis zur Kenntnis, dass jüngere EGMR-Urteile in Fällen, die HDP-Abgeordnete betreffen, unterstreichen, dass die juristischen Schritte gegen sie unmittelbar die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung betreffen und, wie im Fall von Selahattin Demirtaş festgestellt, darauf abzielen, die politische Opposition zu unterdrücken. Zutiefst beunruhigt zeigt sich das Gremium ebenso über die andauernde Haft von elf früheren Abgeordneten. Vom türkischen Parlament ins Feld geführte Gründe zur Legitimation der verweigerten Entlassung ließen Zweifel daran, dass die betroffenen Politikerinnen und Politiker „im Zusammenhang mit der legitimen Ausübung ihrer politischen Rechte ins Visier genommen wurden“, nicht ausräumen. Alle inhaftierten Abgeordneten, in erster Linie die an Alzheimer-Demenz erkrankte Aysel Tuğluk, müssten unverzüglich freigelassen werden.
Die türkische Regierung übt seit Jahren Druck auf die HDP aus, tausende ihrer Mitglieder sitzen in türkischen Gefängnissen. Im Juni hatte die Generalstaatsanwaltschaft des türkischen Kassationshofs beim Verfassungsgericht einen erneuten Anlauf für ein Verbotsverfahren gegen die HDP gestartet. Die Partei würde die „Integrität des Staates“ untergraben, so der Vorwurf. Ein erster Versuch war zuvor aufgrund gravierender Mängel abgewiesen worden. | Foto: Die Parlamentarierin Remziye Tosun ist Überlebende der türkischen Militärbelagerung in Sûr. Wegen eines Urteils über zehn Jahre Freiheitstrafe wegen Terrorvorwürfen könnte sie schon bald im Gefängnis landen.
Beschwerden im Fall Semra Güzel und Gültan Kışanak auf Agenda
Erschwerend komme hinzu, dass aktuelle Abgeordnete der HDP mit einer „neuen Welle“ von Gerichtsverfahren überzogen werden. Der IPU-Ausschuss mahnt zu sorgsamen Schritten: „Das türkische Parlament hat dafür zu sorgen, dass die Immunität der Abgeordneten gewissenhaft geschützt wird und alle Anträge sorgfältig geprüft werden – im Hinblick auf jede:n Betroffene:n. Die Immunität von Abgeordneten darf nur dann aufgehoben werden, wenn die Gerichtsverfahren rechtlich begründet sind und nicht gegen die grundlegenden Menschenrechte verstoßen.“ Von der Regierung in Ankara fordert der Ausschuss, detaillierte Informationen zu diesen Punkten zu erhalten. In die Beschlussfassung ist eingeflossen, die Situation der HDP-Abgeordneten weiter zu verfolgen und zwei neue Beschwerden im Fall von Semra Güzel und Gültan Kışanak zu prüfen.