Gerichtsmedizin attestiert Haftfähigkeit von Aysel Tuğluk

Das dem türkischen Justizministerium unterstellte Institut für Rechtsmedizin in Istanbul hat in einem Folgegutachten erneut die Haftfähigkeit und Strafmündigkeit der an Demenz erkrankten kurdischen Politikerin Aysel Tuğluk festgestellt.

Das Institut für Rechtsmedizin (ATK) in Istanbul hat dem zuständigen Strafgericht in Ankara erneut eine Bescheinigung über die Haftfähigkeit und Strafmündigkeit der an Demenz erkrankten kurdischen Politikerin Aysel Tuğluk vorgelegt.

Laut ATK beruht der 25-seitige Bericht auf einer viertägigen stationären Begutachtung und früheren Gutachten des rechtsmedizinischen Instituts und des Staatskrankenhauses Kocaeli. Am Ende des Berichts findet sich die Behauptung, dass die Probandin regelmäßig schläft und sich ernährt, mit ihrem Umfeld harmoniert und keine Verhaltensstörung aufweist.

In dem Gutachten heißt es, dass Aysel Tuğluk als Oppositionelle inhaftiert ist, an keiner bewaffneten Aktion beteiligt war, gegen bewaffnete Bewegungen sei, seit fünf Jahren im Gefängnis ist und seit zwei Jahren Vergesslichkeit festgestellt worden ist. Neben der Vergesslichkeit wird auf Sturzgefahr hingewiesen, Tuğluk habe von zwei bis drei Stürzen berichtet.

In der Zusammenfassung des Gutachtens werden Anklagepunkte gegen Aysel Tuğluk im sogenannten „Kobanê-Prozess“ aufgezählt. Das gerichtsmedizinische Institut kommt zu dem Schluss, dass trotz einer leichten kognitiven Störung volle Strafmündigkeit besteht.

Seit fünf Jahren im Hochsicherheitsgefängnis

Aysel Tuğluk befindet sich seit Ende 2016 unter Terrorvorwürfen im Hochsicherheitsgefängnis Kandıra in der Schwarzmeerprovinz Kocaeli in Haft. Im vergangenen März stellte ein von neun Fachleuten erstelltes Gutachten der forensischen Abteilung der Universität Kocaeli fest, dass die 56-Jährige aufgrund einer chronischen und fortschreitenden Alzheimer-Demenz nicht länger haftfähig ist und sofort aus dem Gefängnis zu entlassen sei. Das zuständige ATK, eine Einrichtung des Justizministeriums, hat eine gegenteilige Feststellung getroffen und sah bisher keinen Grund für eine Aussetzung des Strafvollzugs.

Im Dezember stellte Tuğluks Verteidigerin Reyhan Yalçındağ einen Antrag auf ein drittes Gutachten, dem stattgegeben wurde. Im staatlichen Krankenhaus von Kocaeli-İzmit wurde ein Ausschuss eingerichtet und der Zustand von Aysel Tuğluk erneut untersucht. Aufgrund der Ergebnisse dieses Berichts musste das ATK eine eingehende Prüfung der Haftfähigkeit Tuğluks vornehmen. Für die stationäre Begutachtung war ein Zeitraum von bis zu drei Wochen einberaumt worden, tatsächlich befand sich die politische Gefangene nur wenige Tage im gerichtsmedizinischen Institut in Istanbul.

Über Aysel Tuğluk

Aysel Tuğluk ist Rechtsanwältin, ehemalige Parlamentsabgeordnete und war bis zu ihrer Verhaftung stellvertretende Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP). In mehreren Verfahren wurde sie bereits verurteilt, andere Prozesse sind noch anhängig. Im Februar 2020 bestätigte der türkische Berufungsgerichtshof die bislang höchste Freiheitsstrafe gegen Tuğluk über zehn Jahre Haft. Verurteilt wurde sie aufgrund ihrer Funktion als Ko-Vorsitzende des Graswurzelbündnisses „Demokratischer Gesellschaftskongress” (KCD) wegen „Leitung einer Terrororganisation“. Im Oktober vergangenen Jahres verhängte ein Gericht in Wan eine zwanzigmonatige Freiheitsstrafe wegen angeblicher PKK-Propaganda in den Jahren 2012 und 2013. Im sogenannten Kobanê-Prozess in Ankara droht Aysel Tuğluk eine erschwerte lebenslange Freiheitsstrafe.

Mob attackierte Beerdigung von Mutter

Im September 2017 löste ein Angriff eines türkischen Mobs auf die Beerdigung von Hatun Tuğluk, der Mutter Aysel Tuğluks, weltweit Empörung aus. Eine Gruppe aus Rassisten und Nationalisten hatte die Beerdigung in Ankara mit Steinen attackiert und Hassparolen gegen die armenischen und alevitischen Minderheiten gerufen. Tuğluk war dabei und verfolgte das Geschehen wehrlos mit. Der Leichnam ihrer Mutter musste in der Folge exhumiert werden, weil der Mob angedroht hatte, das Grab zu schänden. Wenige Tage später wurde Hatun Tuğluk in Dersim beigesetzt. Ihre Tochter durfte sich nicht verabschieden, da ihr die Gefängnisleitung keine zweite Sondererlaubnis erteilt hatte. Es wird vermutet, dass die Demenzerkrankung von Aysel Tuğluk in jener Phase ihren Anfang nahm.