Der Vater der seit knapp fünf Jahren inhaftierten kurdischen Politikerin Gültan Kışanak, Lütfi Özer, ist am Freitag verstorben und gestern in Xarpêt (tr. Elazığ) beigesetzt worden. Kışanak wurde auf Antrag ihres Rechtsbeistands für die Beerdigung aus der Haftanstalt Kandıra nach Xarpêt gebracht. Vor der Bestattung fand im alevitischen Gemeindehaus im Stadtteil Fevzi Çakmak eine Trauerfeier statt, an der neben den Angehörigen auch zahlreiche Politiker:innen der Demokratischen Partei der Völker (HDP) teilnahmen, darunter die Abgeordneten Feleknas Uca, Alican Önlü, Hişyar Özsoy, Fatma Kurtulan und Gülistan Kılıç Koçyiğit. Im Anschluss wurde Lütfi Özer im Dorf Sun beerdigt.
Wer ist Gültan Kışanak?
2014 wurde Gültan Kışanak als erste Frau zur Oberbürgermeisterin von Amed (tr. Diyarbakir) gewählt. Davor war sie Abgeordnete der „Partei des Friedens und der Demokratie“ (BDP) im türkischen Parlament und Ko-Vorsitzende der Partei, die 2014 ihren Namen in „Partei der demokratischen Regionen“ (DBP) änderte. 2016 wurde Kışanak von ihrem Amt abgesetzt und inhaftiert.
Revolutionäre frauenpolitische Offensiven
In ihrer Zeit als Oberbürgermeisterin brachte Gültan Kışanak viele frauenpolitische Initiativen auf den Weg. Diese sollten die Chancen von Frauen zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben verbessern und ihnen mehr Schutz vor häuslicher Gewalt bieten. Die Kommune schuf Frauenarbeitsplätze, z.B. als Parkwächterinnen, und schloss einen revolutionären Tarifvertrag ab, der Frauen, die von ihren Männern geschlagen wurden oder deren Männer Alkoholiker sind, das Gehalt des Mannes zuspricht. Es wurden Frauenhäuser, psychologische Beratungsstellen und Kindergärten eingerichtet. Im Kampf für Geschlechterbefreiung wurde ein Modell eingeführt, in dem alle Vorstandspositionen mit einer Frau und einem Mann besetzt werden. Das patriarchale AKP-System sieht in der genderparitätischen Doppelspitze eine Bedrohung.
14 Jahre und drei Monate Haft
Im Februar 2019 wurde Gültan Kışanak zu 14 Jahren und drei Monaten Gefängnis wegen „Gründung und Leitung einer terroristischen Organisation“ und „Terrorpropaganda“ verurteilt. Zu den Anklagepunkten gehörten die Einführung der genderparitätischen Doppelspitze, sowie offizielle Dokumente der Stadtverwaltung, die in der Anklage zu Papieren einer verbotenen Organisation umgewidmet wurden. In der Anklage wurde ihr auch vorgeworfen, dass sie als Bürgermeisterin das berüchtigte Gefängnis „Hölle Nr. 5“, in dem sie 1980 einst gefoltert wurde, zu einem Museum umbauen wollte. Vor Gericht hatte Kışanak erklärt: „Ich bin mit 19 Jahren ins Gefängnis gekommen und habe mich nicht der Grausamkeit Esat Oktays (Esat Oktay Yıldıran, war 1981 bis Ende 1984 leitender Offizier des Gefängnisses von Diyarbakir, Anm. d. Red.) gebeugt. Weil ich für ihn nicht aufgestanden bin, wurde ich zwei Monate lang in einem zwei Quadratmeter großen Hundezwinger festgehalten. Ich habe die Militärmärsche, zu denen ich gezwungen werden sollte, nicht vorgetragen und ich habe mir keinen militärischen Haarschnitt verpassen lassen. Deshalb bin ich gefoltert worden.“
Journalistin in der Tradition der freien kurdischen Presse
Nach rund zwei Jahren im Gefängnis studierte Kışanak zunächst Türkisch an der Dicle-Universität in Amed, brach jedoch ab und begann 1986 ein Studium für Journalismus und Öffentlichkeitsarbeit an der Fakultät für Kommunikationswissenschaften der Ege Üniversitesi in Izmir. Ab 1990 arbeitete sie als Journalistin für verschiedene prokurdische Zeitungen, unter anderem für die Yeni Ülke und Özgür Gündem. Später wurde sie Chefredakteurin von Özgür Gündem in Istanbul. Nach dem Verbot der Zeitung arbeitete sie in leitender Funktion für die Nachfolgezeitung Özgür Ülke. Bis 2002 war sie bei verschiedenen Zeitungen tätig, unter anderem als Kolumnistin für die Yeniden Özgür Gündem.
Urteil aufgehoben, Wiederaufnahmeverfahren weiter anhängig
Das Urteil über mehr als 14 Jahre Haft für Kışanak wurde noch im selben Jahr von einem Revisionsgericht aufgehoben, im Januar 2020 wurde der Prozess neu aufgerollt. Angeklagt im selben Verfahren ist auch die kurdische Politikerin Sebahat Tuncel, die zu 15 Jahren verurteilt wurde. Das Wiederaufnahmeverfahren ist wie weitere Prozesse gegen beide Frauen noch anhängig. Auch im sogenannten Kobanê-Verfahren sind Kışanak und Tuncel angeklagt.