Der Menschenrechtsausschuss der Interparlamentarischen Union (IPU) hat einen Bericht über Rechtsverletzungen gegen Parlamentsabgeordnete veröffentlicht. Darin dokumentiert die internationale Vereinigung der Parlamente 601 Fälle von mutmaßlichen Zuwiderhandlungen gegen die Rechte von Abgeordneten weltweit. Dies bedeutet einen deutlichen Anstieg im Vergleich zum Vorjahr, in dem 552 registriert worden sind. Spitzenreiter sind Myanmar und die Türkei.
Im Land am Bosporus hat die IPU die Situation von 64 Abgeordneten untersucht, darunter dreißig Frauen. Dabei wurde festgestellt, dass seit der umstrittenen Verfassungsänderung für die Aufhebung der parlamentarischen Immunität im Mai 2016 mehr als 600 Anklagen unter Terrorismusvorwürfen gegen gewählte Mandatsträgerinnen und -träger der HDP erhoben worden sind. Landesweit sind weiterhin hunderte Verfahren gegen aktuelle und ehemalige HDP-Abgeordnete anhängig. Ab November 2016 wurden zudem zahlreiche Parlamentarier inhaftiert, andere sind ins Exil gegangen. Dreizehn aktuelle und frühere Abgeordnete befinden sich derzeit im Gefängnis.
Besorgnis wegen HDP-Verbotsverfahren
Die IPU unterstreicht in ihrem Bericht, dass die Verfahren gegen Parlamentsmitglieder aus den Reihen der HDP „politisch motiviert“ sind und ihre Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit verletzen. Darüber hinaus zeigt sich die Organisation besorgt über das Verbotsverfahren gegen die HDP. Der Generalstaatsanwalt am türkischen Kassationsgerichtshof hat am 17. März die Anklageschrift für ein Verbot der HDP beim Verfassungsgericht eingereicht. Darin wird die Schließung der HDP, die Beschlagnahmung der materiellen Güter und ein politisches Bestätigungsverbot von fünf Jahren für 687 Politikerinnen und Politiker gefordert. Als Begründung wird herangeführt, dass der HDP-Vorstand und Mitglieder „in Wort und Tat für die Zerstörung und Abschaffung der unteilbaren Einheit des Staates und der Nation“ eintreten und einvernehmlich mit der PKK handeln würden. Eine erste Prüfung der Klage durch das Verfassungsgericht erfolgt heute. Gleichzeitig will das Gericht auch die Klage gegen den Mandatsentzug des HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu prüfen.
Raub des Rechts auf Teilnahme am öffentlichen Leben
Im Hinblick auf das mögliche Parteiverbot befürchtet der IPU-Ausschuss für die Menschenrechte von Parlamentariern, dass dadurch nicht nur die HDP-Abgeordneten „ihres Rechts auf Teilnahme am öffentlichen Leben beraubt“ würden, sondern auch der Vertretung ihrer Wählerschaft in der türkischen Nationalversammlung. „Die IPU arbeitet eng mit der Interparlamentarischen Gruppe der Türkei zusammen, um Lösungen aus der Sackgasse zu finden.“ Wie das funktionieren soll, ist fragwürdig. Die türkische Regierung ist seit dem einseitigen Abbruch der Friedensgespräche mit Abdullah Öcalan im Jahr 2015 in einem politischen Vernichtungsfeldzug gegen die kurdische Gesellschaft und ihre Vertreter.
Parteiverbote in der Türkei nicht ungewöhnlich
In der Türkei ist die Schließung von politischen Parteien, insbesondere von pro-kurdischen Parteien, historisch nicht außergewöhnlich. Bislang hat das Verfassungsgericht sechs pro-kurdische politische Parteien unter fadenscheinigen Vorwürfen verboten. Auch jetzt wird ein Verbot erwartet. Der kurdische Rechtsanwalt Onur Düşünmez bezeichnet das Verfahren gegen die HDP in einem ANF-Interview als eine „gut durchdachte und aus einem politischen Algorithmus hervorgegangene Offensive“ der AKP, um die Stimmen im nationalistischen Lager dazuzugewinnen und eine als Konkurrenz angesehene andere Partei zu schließen.
Interparlamentarische Union
Die Interparlamentarische Union, die seit 1921 ihren Sitz in Genf hat, ist die internationale Vereinigung der Parlamente. Sie wurde bereits 1889 gegründet und ist somit die älteste internationale politische Organisation. Ziel der IPU ist es, die Kontakte, die Koordination und den Erfahrungsaustausch zwischen den Parlamenten und deren Mitgliedern aller Länder zu fördern; Fragen von internationalem Interesse betreffend Frieden und Sicherheit, nachhaltige Entwicklung, Frauen in der Politik, Bildung, Wissenschaft und Kultur zu erörtern, um dadurch einzelne Parlamente und Ratsmitglieder zu konkreten Maßnahmen zu veranlassen; zur Förderung von Schutz und Achtung der Menschenrechte – ein zentraler Faktor für die parlamentarische Demokratie und die Entwicklung – und des humanitären Rechts beizutragen, insbesondere zum Schutz der Menschenrechte der Parlamentarierinnen und Parlamentarier; zu einem besseren Verständnis der Arbeitsweise repräsentativer Institutionen beizutragen und deren Entstehung und Fortbildung zu unterstützen.