Der Generalstaatsanwalt Bekir Şahin am türkischen Kassationsgerichtshof hat am 17. März die Anklageschrift für ein Verbot der Demokratischen Partei der Völker (HDP) beim Verfassungsgericht eingereicht. Die Staatsanwaltschaft fordert die Schließung der HDP, die Beschlagnahmung der materiellen Güter und ein politisches Bestätigungsverbot von fünf Jahren für 687 Politikerinnen und Politiker. Eine erste Prüfung der Klage durch das Verfassungsgericht erfolgt am 31. März. Am selben Tag will das Gericht auch die Klage gegen den Mandatsentzug des HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu prüfen.
Im In- und Ausland stößt der Vorgang, mit dem die Regierungspartei AKP die politische Konkurrenz ausschalten will, auf Empörung. Rechtsanwalt Onur Düşünmez hat gegenüber ANF seine Einschätzung des Verbotsverfahrens erläutert. Er ist Mitglied der Anwaltskammer Hakkari (ku. Colemêrg), einer nordkurdischen Provinz an der Staatsgrenze zum Iran und Irak, in der die HDP achtzig Prozent der Wählerstimmen erhalten hat.
Rechtsanwalt Onur Düşünmez
Stimmen im nationalistischen Lager dazugewinnen und Konkurrenz ausschalten
Düşünmez bewertet das angestrengte Verbotsverfahren als „gut durchdachte und aus einem politischen Algorithmus hervorgegangene Offensive einer Partei, die Stimmen im nationalistischen Lager dazugewinnen und eine als Konkurrenz angesehene andere Partei schließen will“. Dafür sei das Thema an den Verfassungsgerichtshof herangetragen worden. Begründet wird der Schritt damit, dass HDP-Mitglieder mit ihren Aussagen und Handlungen beabsichtigt hätten, die Integrität des Staates zu untergraben und an terroristischen Aktivitäten beteiligt gewesen seien.
Vergleich zum Batasuna-Verbot
In der Anklageschrift gibt es an einer Stelle auch einen Verweis auf die europäische Rechtsprechung im Fall der baskischen Partei Herri Batasuna (HB) beziehungsweise ihrer Nachfolgerin Batasuna. Der Oberste Gerichtshof in Spanien hatte die Partei im März 2003 verboten, weil sie von der ETA kontrolliert worden sei und den „Terror nicht ausdrücklich verurteilt“ habe. In seinem Urteil wies das Gericht auf Erklärungen der Batasuna und Äußerungen ihrer Funktionäre wie einer vom August 2002 bei einer Veranstaltung für politische Gefangene hin, in der es hieß, „Der Kampf ist der einzige Weg“ und „Ihr, die Faschisten, seid die wahren Terroristen“. Der EGMR schloss sich der Argumentation Spaniens an und bestätigte das Batasuna-Verbot im Juli 2009 mit der Begründung, die Illegalisierung der Partei sei eine dringende soziale Notwendigkeit zum Schutze anderer gewesen, weil „die Handlungen und Aussagen der Batasuna das Bild eines von ihr entworfenen und angepriesenen Gesellschaftsmodells darstellen, das mit dem Konzept einer demokratischen Gesellschaft im Widerspruch steht“.
Grundsätzlich fehlerhafte Parallele
„Dieser Vergleich zwischen der HDP und Batasuna ist grundsätzlich fehlerhaft“, meint Rechtsanwalt Onur Düşünmez aus der juristischen Perspektive. „Die Batasuna wurde verboten, weil sie laut spanischer und europäischer Justiz das ständige politische Gegenstück zur ETA gewesen sein soll.“ In dem Verfahren ging es um sogenannte organische Beziehungen zwischen Batasuna und ETA, weil es sich etwa beim Sprecher Arnaldo Otegi um ein ehemaliges ETA-Mitglied handelte. Im Gegensatz dazu stehe die HDP auf der Grundlage der türkischen Verfassung und sei mit einem solchen Vorwurf nicht zu verbieten, sagt Düşünmez.
Ein abgekartetes Spiel
Der Jurist sieht in dem Verbotsverfahren gegen die HDP ein abgekartetes Spiel: „Die Forderung nach der Schließung der HDP und die Anklageschrift wurden vom Chefankläger des Kassationsgerichtshofs offiziell an den Verfassungsgerichtshof übergeben. Sieben Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs wurden direkt von Präsident Erdoğan ausgewählt. Das Gericht besteht aus 15 Mitgliedern, wovon fünf zuvor von Abdullah Gül [Erdoğans-Amtsvorgänger, ebenfalls AKP] eingesetzt worden waren. Eine Entscheidung kann mit einer Mehrheit von zehn Personen getroffen werden. Es handelt sich hier also um eine direkte Forderung des Präsidenten und das reicht aus, um die Partei zu verbieten. Denn Erdoğan verfügt über ausreichend seinerseits ernannte Personen, so dass eine Mehrheit für ein Verbot möglich erscheint. Ich glaube nicht, dass ein Gericht, in dem die Mehrheit der Mitglieder von Erdoğan ernannt worden ist, eine unabhängige Entscheidung trifft.“
Was würde passieren, wenn sich die HDP auflöst?
Wenn die HDP sich vor dem Hintergrund des Verfahrens selbst auflöst, würde dies einem Politikverbot für die betroffenen 687 Personen im Weg stehen. Es würde nur die Übertragung ihres Vermögens auf den Fiskus erfolgen. Düşünmez stellt klar: „Das heißt, wenn die HDP beschließt, ihre zentralen Institutionen zu schließen, läuft die Anklageschrift ins Leere und es würde nur noch über ihre materiellen Bestände vom Verfassungsgericht beschieden werden können.“
Nicht das erste Parteiverbot
In der Vergangenheit ist immer wieder versucht worden, durch Parteienverbote gegen die Ideen, die hinter der HDP stehen, vorzugehen, führt Düşünmez weiter aus. „Die HDP ist keine Fortsetzung dieser verbotenen Parteien, aber wenn wir uns die Grundstruktur anschauen, ist sie eine Partei, die von Menschen aus der politischen Linken gegründet wurde. Die Schließung der HDP wird der Türkei keinen Mehrwert bringen, sondern mit Großbuchstaben in die Geschichtsbücher schreiben, dass unser Land kein demokratisches Land ist.“
Düşünmez ist sich sicher, dass ein Verbot die HDP am Ende stärken wird. „Die kurdische politische Tradition war immer einem Regime der permanenten Repression ausgesetzt und die HDP ist aus dieser Repression immer stärker hervorgegangen. Es handelt sich um einen perfide kalkulierten, politischen Schritt, der als Schande in die türkische Geschichte eingehen wird.“