HDP-Verfahren: „Alles rechtlich Unmögliche ist in der Anklageschrift“

Die über 600 Seiten dicke Anklageschrift gegen die HDP ist voll von Falschbehauptungen und Rechtsbrüchen. Über das Verfahren wird jedoch ein von Erdoğan-Anhängern besetztes Gericht entscheiden.

Der Antrag auf ein Verbot der Demokratischen Partei der Völker (HDP) beim türkischen Verfassungsgericht macht weltweit die Runde. Im Verbotsantrag ist die Rede von einem Politikverbot für 687 Personen. Kurz bevor der Verbotsantrag bekannt gegeben wurde, wurde auch dem HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu das Mandat aberkannt. Die HDP-Abgeordneten, unter ihnen auch Gergerlioğlu, haben daraufhin im Parlament einen Sitzstreik gegen die Entscheidung gestartet. Im ANF-Gespräch beschreibt der Anwalt Ramazan Demir die juristische Dimension der Repression.

687 Personen soll ein Politikverbot erteilt werden. Gibt es dafür einen Präzedenzfall?

Es gab in der Vergangenheit einige Menschen, die in Fällen von Parteischließungen Politikverbote erhalten haben, aber ich denke, dies ist das erste Mal, dass die Anzahl von Betroffenen so hoch ist. In der Regel wurde ein Politikverbot gegen die Parteispitze ausgesprochen. Es scheint jedoch, dass hier nun die aktuelle Periode der HDP, die vorherige und die vorvorherige eingeschlossen, und damit eine viel größere Zahl von Personen mit Politikverboten belegt wird.

Die Anklageschrift gegen die HDP umfasst auch Entscheidungen in Bezug auf Demirtaş, die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verworfen wurden. Auch eine Entscheidung über Sırrı Süreyya Önder, die vom Verfassungsgericht als Rechtsverletzung eingeordnet wurde, ging mit in die Anklage ein. Was bedeutet das, und gibt es ähnliche Beispiele?

Das betrifft nicht nur die beiden Fälle. Dutzende von Personen, die zu verschiedenen Zeiten vor Gericht standen oder gegen die ermittelt wurde, deren Fälle aber eingestellt wurden, sind mit in das Verfahren aufgenommen worden. Alles, was rechtlich nicht möglich ist, steht in der Anklageschrift. Das Büro der Generalstaatsanwaltschaft setzte alles, was sie in ihre Finger bekam, ein, um die Anklageschrift zu füllen. Es prüfte aber in keiner Weise, ob diese Anschuldigungen wirklich noch im Raum standen oder ob diese nicht bereits zurückgenommen worden waren. Es ist eine leere Anklageschrift und es wird wohl erwartet, dass sie allein aufgrund der Seitenzahl ernst genommen wird.

In der Anklageschrift heißt es, dass „die beklagte Partei nicht zur Türkei steht“. Auf welche konkreten Beweisen beruht dies, und was ist hier mit „der Türkei“ gemeint?

Rechtlich betrachtet ist niemand verpflichtet, den Staat zu unterstützen. Sowohl der Staat als auch die Regierung sind Strukturen, die kritisiert, zur Rechenschaft gezogen und hinterfragt werden können. Eine Verantwortung, dies nicht zu tun, ist den Menschen weder verfassungsmäßig noch rechtlich auferlegt. Natürlich gibt es keine Beweise für eine Frage, die nicht einmal ein Straftatbestand darstellt. Die Regierung nimmt Thesen und Worte und macht sie zum ‚Verbrechen‘ und die Staatsanwaltschaft versucht, daraus Tatbestände zu konstruieren.

Aber wie soll das Verfahren laufen? Der Verfassungsgerichtshof besteht ja auch aus Richtern, die zuvor HDP-Abgeordnete verurteilt haben. Beeinflusst das nicht die Entscheidung?

Technisch und rechtlich sollten mehr als die Hälfte der derzeitigen Verfassungsgerichtsmitglieder aus Gründen der Befangenheit nicht in der Lage sein, die Akten von HDP-Mitgliedern zu bearbeiten. Die Unparteilichkeit der vom Präsidenten ernannten und ihm nahestehenden Mitglieder ist eindeutig fragwürdig. Darüber hinaus haben einige Mitglieder politisch gegen die HDP gearbeitet. Diese sollten sich selbst vom Fall zurückziehen. Wenn dies nicht geschieht, wird die Unparteilichkeit des Verfassungsgerichts vor dem Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zur Debatte stehen.