HDP-Abgeordnete Remziye Tosun zu zehn Jahren Haft verurteilt

Die HDP-Abgeordnete Remziye Tosun, Überlebende der türkischen Militärbelagerung in Sûr, ist in der Türkei wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation zu einer Freiheitsstrafe in Höhe von zehn Jahren verurteilt worden.

Die Abgeordnete der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Remziye Tosun, ist in der Türkei wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation” zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Die kurdische Politikerin ist Überlebende der türkischen Militärbelagerung zwischen 2015 und 2016 in Sûr, der historischen Altstadt von Amed (türk. Diyarbakir). Als sie den Bezirk während der Ausgangssperre verließ, wurde sie festgenommen und kam für 15 Monate mit ihrer damals einjährigen Tochter ins Gefängnis. Vom Vorwurf des „Versuchs zum Umsturz der verfassungsmäßigen Ordnung“ wurde sie freigesprochen.

Der letzte Verhandlungstag im Prozess gegen Tosun fand wieder am 5. Schwurgerichtshof in Amed statt. Persönlich anwesend war die 40-Jährige im Saal nicht, stattdessen ließ sie sich von ihrem Anwalt Muharrem Şahin vertreten. Die Anklage gegen Tosun beruhte ausschließlich auf den Aussagen des sogenannten Kronzeugen Ibrahim Halil Koyuncu, der weit über hundert Überlebende der Belagerung von Sûr mit vage formulierten Vorwürfen des „bewaffneten Angriffs auf die verfassungsrechtliche Ordnung” beschuldigte.

Şahin wies die Anschuldigungen gegen seine Mandantin als unbegründet zurück. Sie seien nicht nur realitätsfern, Koyuncu könne unmöglich im Besitz von Informationen über hundert Personen sein, die im Zuge der Angriffe auf Sûr in Wohnhäusern und Kellern eingeschlossen waren. Gleichermaßen seien die Vorwürfe skandalös. „Meine Mandantin lebt in Sûr, und das seit Jahren. Ihre finanzielle Situation zum damaligen Zeitpunkt erlaubte es ihr nicht, ihren Wohnort zu verlassen. Sie hatte keine Alternative, wo sie mit ihren Kindern hätte Unterschlupf finden können“, sagte Şahin. Aus der Anklageschrift gehe des Weiteren hervor, dass Tosun laut dem Zeugen „Mitglied der Organisation“ – gemeint ist die PKK - sei, an Kampfhandlungen teilgenommen habe und Verletzte verarztet haben soll. „Diese Behauptungen fügen sich nicht stimmig in einen normalen Lebensfluss ein. Eine einzige Person kann unmöglich die Kraft haben, dies alles getan zu haben. Insbesondere im Hinblick auf die allgemeine Situation während der Belagerung in Sûr, aber auch bezüglich der persönlichen Lage meiner Mandantin.“

Den Antrag auf Freispruch für Remziye Tosun wies das Gericht zurück und verurteilte sie zu einer Freiheitsstrafe in Höhe von zehn Jahren. Außerdem wurden die im Jahr 2017 angeordneten Meldeauflagen inklusive eines Ausreiseverbots gegen Tosun verlängert. Darüber hinaus entschied das Gericht, jeweils eine Kopie des Urteils an das Justizministerium und das Parlament in Ankara zu senden. Wird das Urteil in der türkischen Nationalversammlung verlesen, verliert Tosun ihr Mandat und damit auch ihre parlamentarische Immunität.

Drei Monate in Sûr ausgeharrt

Drei Monate lang harrte Remziye Tosun mit vier ihrer Kinder unter den Angriffen staatlicher Sicherheitskräfte aus. Als sie Sûr schließlich verlassen musste, wurde sie mit ihrer anderthalbjährigen Tochter Beritan und neun weiteren Personen wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation und bewaffneten Angriffs auf die verfassungsrechtliche Ordnung verhaftet. Auch gegen ihre Kinder wurde ein Ermittlungsverfahren wegen Mitgliedschaft eingeleitet.

Nach Remziye Tosuns Verhaftung wurden drei ihrer Kinder in einem Heim untergebracht. Erst nach heftigem Protest wurden die Kinder in die Obhut ihrer Großmutter übergeben. Remziye Tosuns Mann wurde ebenfalls während der Ausgangssperre in Sûr verhaftet. Er ist immer noch im Gefängnis. Sie selbst wurde nach 15 Monaten im Mai 2017 aus dem Gefängnis in Amed entlassen und bekam Meldeauflagen.

Während der Ausgangssperre wurde das Haus der Familie in Sûr von staatlichen Kräften zerstört. Remziye Tosun zog mit ihrer Großmutter und ihren Kindern zurück an ihren Geburtsort Termila Jêrîn und setzte ihre politische Arbeit nach ihrer Haftentlassung fort. Zunächst arbeitete sie als Köchin in der HDP-Zentrale in Amed. Um allen Betroffenen der Zerstörung von Sûr eine Stimme zu verleihen, bewarb sie sich um eine Kandidatur als Abgeordnete. In ihrem Wahlkampf stieß sie auf großes Interesse und wurde in Amed auf dem vierten Listenplatz der HDP gewählt. Remziye Tosun erfährt vor allem von Frauen viel Unterstützung.

Die Zerstörung von Sûr

Im November 2015 begann mit der Ausrufung einer Ausgangssperre die Zerstörung von Sûr. In der Altstadt von Amed, die eine fünftausendjährige Geschichte hat und unter dem Schutz der UNESCO steht, war kurz zuvor die Selbstverwaltung ausgerufen worden. Über drei Monate leisteten die Menschen im Viertel Widerstand gegen ein barbarisches Angriffskonzept des türkischen Staates. Die Zerstörung setzt sich bis heute fort, Tausende Menschen sind vertrieben worden.