Filmvorführung „Briefe aus Şengal“ in Göttingen

Am zweiten Tag der Veranstaltungen in Göttingen zum 10. Jahrestag des Genozids und Feminizids an den Ezid:innen wurde vor großem Publikum der Film „Briefe aus Şengal“ gezeigt. Im Anschluss des Films fand ein Gespräch mit der Regisseurin statt.

Zehn Jahre Völkermord in Şengal

Nach einer Mahnwache in der Göttinger Innenstadt am 3. August wurde am Sonntagabend der Film „Briefe aus Şengal“ gezeigt. Eingeladen hatten Women Defend Rojava und Defend Kurdistan Göttingen zusammen mit dem AK Asyl. Im Anschluss sprach das Publikum mit der Regisseurin über den Film, der das erfahrene Leid des ezidischen Volkes durch die Gewalt des sogenannten Islamischen Staates, aber auch den entschlossenen Widerstand, Solidarität und die Würde der Menschen zeigte.

Der Film „Briefe aus Sengal“

Aus unterschiedlichen Perspektiven, entlang erinnerter Erlebnisse und Gedanken aus Briefen, erzählt der Film die Ereignisse Anfang August 2014 im Şengal. So schreibt ein junger Mann, wie er sich dem bewaffneten Widerstand einer kleinen Gruppe von Jugendlichen gegen den Islamischen Staat (IS) anschließt, nachdem er die Gräueltaten der IS-Banden erlebt hatte. In liebevollen Worten, gerichtet an den Guerillakämpfer der PKK, der die Gruppe anführte, erzählt er, wie er die Freiheitsbewegung Kurdistans kennenlernte und zu einem Kämpfer für die Freiheit wird. Ein junges Mädchen richtet ihre Worte an Gott. Sie beschreibt ihre Flucht aus Şengal-Stadt in die schützenden Berge. Nichts kann sie mit sich nehmen, außer einer zarten Pflanze im Blumentopf, der sie ihre Wünsche anvertraut, die mit einer Blüte in Erfüllung gehen werden. An ihrer Seite geschieht großes Leid, doch ihr Wunsch nach Freiheit für alle Ezid:innen geben ihr Kraft und Zuversicht. Briefe von und an mutige Frauen erzählen die Geschichte von Frauen, die in Auflehnung gegen patriarchale Strukturen in der eigenen ezidischen Gesellschaft die Waffen ergreifen, um sich und ihr Land zu verteidigen. Sie schreiben über den gemeinsamen Widerstand der Kämpfer:innen aus allen Teilen Kurdistans, über den Verlust von Genoss:innen und über die fehlende Zeit im Krieg, über das Gesehene und Erlebte zu weinen.

Diskussion mit der Regisseurin

Im anschließenden Filmgespräch berichtete die Regisseurin über die Entstehungsgeschichte des Films. Sie selbst war am 3. und 4. August im Şengal, erlebte die Ereignisse vor Ort und filmte. In „Briefe aus Şengal“ sind ihre und weitere dokumentarische Filmsequenzen mit nachgespielten Szenen verflochten. Die Regisseurin berichtete von den Planungen, die in einem Team von Frauen stattfanden, und den Dreharbeiten des Films an den Orten, an denen die Kämpfe gegen den IS im Şengal geführt wurden. An den nachgespielten Szenen des Films haben ausschließlich Menschen aus dem Şengal selbst mitgewirkt, die den Genozid miterlebten.

Viel wurde mit dem Publikum über die Geschichte der ezidischen Gesellschaft ausgetauscht und diskutiert, die ständige Bedrohung und die immer noch stattfindenden Angriffe von Seiten des türkischen Militärs. Die Regisseurin erinnerte daran, wie die südkurdische PDK die Ezid:innen im Şengal schutzlos zurückließen und dass es die Guerilla der PKK und die Volksverteidigungskräfte aus Rojava waren, die tausende Ezid:innen retteten. Doch auch die Situation von Ezid:innen in Deutschland war Thema. Teilnehmende Ezid:innen berichteten von akut drohenden Abschiebungen in den Irak und der Doppelmoral des deutschen Staats. Nach der Anerkennung des Genozids durch die Bundesregierung Anfang 2023 wurde nur wenige Monate später wieder begonnen, Ezid:innen abzuschieben. Berichtet wurde auch von den andauernden Bemühungen und Schwierigkeiten, die nach wie vor Tausende vom IS verschleppte und versklavte Frauen und Mädchen ausfindig zu machen und zu befreien – und vom deutschen Staat der nicht bereit ist, sich in konkreten Fällen gegen das Erdogan-Regime in der Türkei durchzusetzen. Dennoch gibt es auch nach zehn Jahren immer wieder Erfolge in der Befreiung, die weiter Hoffnung geben.

Trailer von „Briefe aus Şengal“

Die abschließend klare Botschaft der Regisseurin war: „Wir wollen nicht vergessen werden. Dieser Völkermord wurde zwar von Staaten wie Deutschland anerkannt, aber ansonsten wurde uns nicht geholfen. Von den Staaten brauchen wir nichts mehr zu erwarten. Es liegt bei den Menschen selbst, bei uns, den Genozid nicht zu vergessen und an der Seite der Opfer zustehen.“