Şengal gedenkt des Völkermords vor zehn Jahren

Ezidinnen und Eziden in Şengal haben des zehnten Jahrestags des Völkermords des IS an ihrer Gemeinschaft gedacht. Sie fordern die Anerkennung ihres Leids, die Verfolgung der Täter, Autonomie und das Recht auf Selbstverteidigung.

Ezidinnen und Eziden in Şengal haben am Samstag des zehnten Jahrestags des letzten Völkermords an ihrer Gemeinschaft gedacht. Mit einer Demonstration, zu welcher der Demokratische Autonomierat Şengal (Meclîsa Xweseriya Demokratîk a Şengalê, MXDŞ) aufgerufen hatte, forderten sie die Anerkennung der Gräueltaten der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) durch den Irak als Genozid und Feminizid und die juristische Verfolgung der Täter. Der Şengal-Region – das letzte zusammenhängende Siedlungsgebiet der Ezidinnen und Eziden im Nordwesten des Landes, müsse zudem ein Autonomiestatus und das Recht auf Selbstverteidigung zugesprochen werden. Darüber hinaus brauche es Unterstützung beim Wiederaufbau und der Rückkehr der Vertriebenen. Eine weitere Forderung war die Einstellung der Angriffe auf Şengal durch die Türkei.

„Nie wieder Völkermord und Sklaverei – Autonomie und Freiheit jetzt“ lautete in etwa die Losung, unter der viele Menschen durch die Stadt zogen. Ganz vorne liefen mehrere Frauen in Burkas. Sie hatten sich angekettet und trugen „Preisschilder“ mit Dollarsymbol, um an die vielen Frauen zu erinnern, die der IS nach seinem Überfall auf Şengal verschleppt und auf eigens für Ezidinnen eingerichteten Sklavenmärkten im Irak und Syrien verkauft hatte. Andere Menschen hielten Schilder mit den Gesichtern von Menschen hoch, die vom IS getötet wurden oder aber im Kampf gegen die Dschihadistenmiliz ums Leben kamen.


Der Völkermord in Şengal begann am 3. August 2014. Durch systematische Massakrierung, Vergewaltigung, Folterung, Vertreibung, Versklavung von Mädchen und Frauen sowie der Zwangsrekrutierung von Jungen als Kindersoldaten erlebte die ezidische Gemeinschaft den von ihr als Ferman bezeichneten 74. Genozid in ihrer Geschichte. Mindestens 10.000 Menschen, hauptsächlich Männer und Jungen über zwölf Jahre, fielen den Massakern zum Opfer, mehr als 400.000 Menschen wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Über 7.000 Frauen und Kinder wurden verschleppt, bis heute werden etwa 2.700 von ihnen vermisst. Daher stellt dieser Genozid in seiner Form zugleich auch einen Femizid dar.

Als der IS vor zehn Jahren in Şengal einrückte, zogen sich die rund 12.000 in der Region stationierten Peschmerga der Barzanî-Partei PDK, welche die Kurdistan-Region des Irak beherrscht, ohne Vorwarnung zurück und überließen die Bevölkerung schutzlos den Islamisten. Wer fliehen konnte, ging ins Gebirge. Dort schützte zunächst ein Dutzend Kämpfer der PKK-Guerilla den Zugang zum Gebirge und verhinderte das Eindringen der Dschihadisten. Weitere Einheiten wurden zur Verteidigung der Ezid:innen nach Şengal geschickt. Am 6. August 2014 kamen zwei Bataillone der YPG und YPJ aus Rojava den YJA Star und HPG zu Hilfe. Es wurde ein Fluchtkorridor eingerichtet, um die zu Zehntausenden auf den Şengal-Berg geflohenen Menschen zu evakuieren. Über diesen Korridor gelangten bereits in den ersten Tagen des August rund 50.000 Ezid:innen nach Rojava. So konnte ein noch größeres Massaker verhindert werden.

„Es lebe der Widerstand in Şengal“ sowie „Bijî Gerîla“ war mit Rückblick auf den Einsatz der PKK sowie der YPG und YPJ daher immer wieder aus der Demonstration zu hören, aber auch „Nieder mit der PDK und ihrem Verrat“. In Redebeiträgen, die unter anderem von der Ezidischen Partei für Freiheit und Demokratie (PADÊ) und der ezidischen Frauenbefreiungsbewegung TAJÊ gehalten wurden, wurde dem Barzanî-Clan eine direkte Mittäterschaft beim IS-Genozid von 2014 vorgeworfen. Die irakische Justiz sei daher aufgefordert, bei der verlangten Verfolgung der Täter auch die Verantwortlichen der PDK zu belangen. Diese habe mit dem Abzug ihrer Peschmerga aus Şengal die Massaker erst ermöglicht.


Gegen die Türkei müsse Bagdad ebenfalls intervenieren. Mit den seit 2017 verübten Luftangriffen auf Şengal versuche der türkische Staat das zu vollenden, was dem IS nicht gelang – die „totale Vernichtung der ezidischen Existenz“, hieß es in den Reden. Tatsächlich nahmen türkische Drohnen und Kampfflugzeuge bei ihren bisherigen Angriffen auf Şengal fast ausschließ Überlebende des Völkermords ins Visier. Oftmals waren es Menschen, die in den politischen und militärischen Strukturen, die unter dem Eindruck der Massaker gebildet wurden – etwa der MXDŞ oder die Widerstandseinheiten YBŞ/YJŞ – aktiv waren. „Wir stehen hier heute zusammen, um auf die anhaltende existenzielle Bedrohung unserer Glaubensgemeinschaft hinzuweisen und das Leid zu würdigen, das uns widerfahren ist. Das ist auch Aufgabe der irakischen Regierung und aller Länder der Welt. Wir fordern sie auf, die Gewalttaten des IS anzuerkennen und alle Forderungen unserer Gemeinschaft zu erfüllen. Es ist unser Recht, in unserer Heimat in Sicherheit zu leben und uns selbst zu verwalten. Uns das zu geben und Wiedergutmachung zu leisten, ist die Verpflichtung aller, die in unserer Schuld stehen.“