Deutschlandweites Gedenken an „Ferman 74“

„Gegen Femizide - Seid die Stimme der Selbstverteidigung“ – unter diesem Motto wurde in vielen deutschen Städten am zehnten Jahrestag des Völkermords an der ezidischen Gemeinschaft Şengals gedacht.

Zehn Jahre Völkermord in Şengal

Zum zehnten Jahrestag des IS-Angriffs auf die Şengal-Region im Nordirak wurde am 3. August vielerorts an den Völkermord an der ezidischen Gemeinschaft erinnert, auch im deutschen Bundesgebiet. Die Kurdische Frauenbewegung in Europa (TJK-E) und der Dachverband der êzîdischen Frauenräte in Deutschland e.V. (SMJÊ) stellten ihre Aktivitäten unter das Motto „Gegen Femizide - Seid die Stimme der Selbstverteidigung“ und knüpften damit an eine am 8. März initiierte Kampagne der ezidischen Frauenbefreiungsbewegung TAJÊ (Tevgera Azadiya Jinên Êzidî) an.

Am 3. August 2014 überfiel die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) Şengal mit dem Ziel, eine der ältesten Religionsgemeinschaften auszulöschen: Die Ezidinnen und Eziden. Durch systematische Massakrierung, Vergewaltigung, Folterung, Vertreibung, Versklavung von Mädchen und Frauen sowie der Zwangsrekrutierung von Jungen als Kindersoldaten erlebte die ezidische Gemeinschaft den von ihr als Ferman bezeichneten 74. Völkermord in ihrer Geschichte. Mindestens 10.000 Menschen, hauptsächlich Männer und Jungen über zwölf Jahre, fielen den Gräueltaten der Dschihadisten zum Opfer. Über 7.000 Frauen und Kinder wurden verschleppt, rund 2.700 von ihnen werden bis heute vermisst. Weitere 400.000 Menschen wurden aus ihrer Heimat vertrieben.

Demonstration in Leipzig

In Leipzig kamen etwa 150 Menschen zu einer Demonstration zusammen, die vom Augustusplatz durch die Innenstadt bis zum Hauptbahnhof zog. Sie forderten Gerechtigkeit und das Recht auf Selbstverteidigung für Şengal.


Die Demonstration war von einem feministischen, internationalistischen Bündnis verschiedener Leipziger Organisierungen auf die Beine gestellt worden. Es gab Kulturbeiträge wie Lieder und Gedichte sowie Redebeiträge und einen kraftvollen Demonstrationszug mit vielen Rufen durch die volle Leipziger Innenstadt. Die Kampagne Women Defend Rojava berichtete von der Gewalt, die der ezidischen Bevölkerung und vor allem den Frauen widerfuhr, und betonte dabei insbesondere den Widerstand der Frauenverteidigungseinheiten YPJ und YJŞ. Eine Aktivistin erzählte die Geschichte der jungen Ezidin Tolin, die vom IS versklavt wurde, sich befreien konnte und sich daraufhin der YPJ anschloss, um für die Freiheit aller Frauen zu kämpfen.


Ein Redebeitrag von Catcalls of Leipzig thematisierte die Gewalt gegen Frauen und queere Personen und ging dabei besonders auf die Gewalt an trans Personen ein. Die Frauenorganisation Zora berichtete vom Feminizid an einer Leipzigerin mit dem Namen Jessica, die kürzlich ermordet wurde. Die Junge Frauenkommune rief zur weltweiten Solidarität gegen Gewalt an Frauen auf und stellte klar: „Frauen sind nicht länger nur Opfer, sondern sie sind entschlossen sich zu rächen. Das muss auch für uns hier gelten. Wir dürfen uns nicht getrennt davon sehen und uns bemitleiden, sondern müssen uns unserer Stärke bewusstwerden und handeln.“

Eine junge Frau berichtete, dass sie sich zwar freue, an diesem Tag zu den Demonstrierenden in Leipzig sprechen zu können. Den Tag hätte sie aber eigentlich im Rahmen einer Delegationsreise im Şengal verbringen sollen, um dort an der zentralen Gedenkveranstaltung teilzunehmen. Die Bundespolizei habe sie und ihre Mitreisenden jedoch unter fadenscheinigen Bedingungen an der Ausreise gehindert. „Obwohl der deutsche Staat den Şengal-Genozid letztes Jahr anerkannt hat, verbaut er Kriegstechnik in Drohnen, welche im Irak morden, kooperiert immer wieder mit der Türkei und verhindert die Reise der jungen Menschen, welche von dem Umgang mit dem Genozid vor Ort vor allem lernen wollten“, kritisierte die Aktivistin.

Die Demonstration konnte viele Passantinnen und Passanten in der Leipziger Innenstadt erreichen und endete in einem gemeinsamen Gedenken am Hauptbahnhof.

Kundgebung in Frankfurt

In Frankfurt am Main fand eine Kundgebung statt, die vom Frauenrat Amara und der Kampagne Women Defend Rojava ausgerichtet wurde. Zu der Veranstaltung auf dem Rathenauplatz in der Innenstadt kamen auch Aktivistinnen der Frauenräte umliegender Städte, die innerhalb des Verbands der kurdischen Frauenbewegung in Deutschland (YJK-E) organisiert sind. Sie schlossen sich der TAJÊ an, die mit ihrer Kampagne „Gegen Femizide - Seid die Stimme der Selbstverteidigung“ fordert, dass das vom IS vor zehn Jahren in Şengal begangene Massaker auf allen Ebenen im Irak offiziell als Völkermord eingestuft und entsprechend verfolgt wird und dass Femizid als Kriegsverbrechen anerkannt und alle Täter und Unterstützer verurteilt werden. Zudem wird die Anerkennung der nach 2014 in Şengal etablierten Selbstverwaltung und Sicherheitskräfte als legitime Vertretung und Selbstverteidigung sowie die Einstellung aller Angriffe auf die ezidische Gemeinschaft eingefordert, vor allem der Drohnenangriffe durch den türkischen Staat. Die Kampagne setzt sich auch für eine gesellschaftliche und institutionelle Akzeptanz des Rechts von Frauen auf organisierte Selbstverteidigung ein.


Freiburg: Abschiebestopp jetzt!

In Freiburg hatten der Kurdische Volksrat und der Frauenrat Nuda zu einer Versammlung eingeladen. Der linke Lokalpolitiker Armin Fahl, der seit Jahren in der örtlichen Kurdistan-Solidarität aktiv ist, kritisierte in einer Rede, dass trotz der Anerkennung des IS-Völkermords in Şengal durch die Bundesregierung geflüchtete Ezidinnen und Eziden weiterhin aus Deutschland in den Irak abgeschoben werden. Dabei verlange das Bekenntnis Konsequenzen. Den Betroffenen müsse eindeutig signalisiert werden, dass die erlittenen Grausamkeiten und ihr Schutzbedürfnis in Deutschland anerkannt würden. Die politische Folge der Anerkennung des Völkermords müsse daher ein von der Bundesregierung verhängter genereller Abschiebestopp für Ezid:innen sein, betonte Fahl. Er verurteilte auch die Angriffe der Türkei auf das ezidische Siedlungsgebiet Şengal und forderte, dass die unterstützende Haltung der Regierung in Ankara für IS-Terroristen von internationalen Gerichten überprüft werde. Deutschland müsse sich zudem für ein Ende der türkischen Staatsgewalt gegen die ezidische Gemeinschaft einsetzen.


Weitere Kundgebungen in Gedenken an „Ferman 74“ fanden unter anderem in Kiel, Saarbrücken, Berlin und Mannheim statt.

Kiel


Saarbrücken


Berlin


Mannheim