Göttingen: Mahnwache für die Opfer des Şengal-Genozid

Anlässlich des 10. Jahrestags des Genozids und Feminizids an der ezidischen Bevölkerung im Şengal durch den sogenannten IS fand in Göttingen eine Mahnwache mit Ausstellung statt.

Völkermord durch den IS

Anlässlich des 10. Jahrestags des Genozids und Feminizids an der ezidischen Bevölkerung im Şengal durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) fand am 3. August eine Mahnwache mit Ausstellung in der Göttinger Innenstadt statt. Eingeladen hatten die Göttinger Gruppen Women Defend Rojava, Defend Kurdistan und der AK Asyl. Mehr als 60 Personen und verschiedene weitere Organisationen beteiligten sich an dem Gedenken, darunter das Netzwerk gegen Femizide und der Kurdische Gesellschaftsverein.

An der Mahnwache am Göttinger Gänseliesel wurde mit einer Ausstellung, Musik, Informationsmaterial und Reden von verschiedenen Organisationen an die Opfer des Genozids erinnert und auf die immer noch vermissten ezidischen Frauen aufmerksam gemacht, die vom IS nach dem Überfall auf Şengal verschleppt wurden.

Eine Geschichte von Trennung, Ermordung und Verschleppung

Mit eindrucksvollen Worten schilderte ein ezidischer Aktivist in einer Rede die Geschichte seiner Familie – eine Geschichte von Trennung, Ermordung und Verschleppung. Er betonte, wie viel Schmerz und Trauer diese Erfahrungen hinterlassen haben. Da die ezidische Gemeinschaft im Şengal in ihrem Widerstand gegen den IS allein gelassen wurde, sei das Vertrauen in internationale Organisationen und die Regierungen im Irak verloren gegangen. Doch auch in Deutschland sei es für Ezid:innen nicht leicht, denn viele wüssten immer noch nicht viel über ihr Schicksal und ihre Geschichte. So lud er dazu ein, ins Gespräch zu kommen, Solidarität zu zeigen und sich für das Finden der noch immer vermissten Ezid:innen einzusetzen.

Betont wurde auch der Mut und Entschlossenheit, mit dem sich viele Ezid:innen den Angriffen des IS entgegenstellten, um ihr Land und Bevölkerung zu verteidigen. So beendete die kurdische Aktivistin Nadia Mirzai ihre Rede, in der sie sich an die Seite der kämpfenden belutschischen und afghanischen Frauen stellte, mit den Worten: „Zehn Jahre sind nach dem brutalen Massaker an den Ezid:innen durch die unmenschlichen IS-Anhänger im Şengal vergangen. Wir gedenken der Held:innen, die sich dem unter schwierigsten Bedingungen gestellt haben. Wir würdigen diejenigen, die sich dem Völkermord widersetzt haben. Wie werden niemals schweigen und erklären unseren gemeinsamen Kampf gegen diese frauenfeindlichen Machthaber.“

Auch Sprecher:innen des Netzwerks gegen Femizide Göttingen drückten ihre Solidarität und die Gemeinsamkeit des Kampfes aus. In ihrer Rede hieß es: „Wir stehen solidarisch und in großem Respekt für ihren Widerstand sowie in Erinnerung an ihr Leiden mit der ezidischen Bevölkerung. Wir weigern uns, diese Angriffe in Vergangenheit geraten zu lassen.“ Das Netzwerk betonte, dass Feminizide ein ständiges Drohszenario für Frauen weltweit seien, und informierte die Anwesenden und zuhörenden Passant:innen: „Wir sprechen von Feminiziden, wenn Frauen und andere Personen, denen Weiblichkeit zugesprochen wird aufgrund ihres – wahrgenommenen – Geschlechts, ermordet werden. Feminizide sind ein ständiges Drohszenario.“ Und sie kritisierten die Doppelmoral westlicher Staaten, als der Feminizid und Genozid im Şengal verübt wurde. „Auch daran wollen wir heute erinnern: Die westlichen Staaten haben damals mit sehenden Augen – aber schweigend und tatenlos, solange ihre wirtschaftlichen Interessen nicht gefährdet wurden – die Ezid:innen alleine gelassen. Und wir wollen mahnen, dass auf den Staat kein Verlass ist. Aber wir als internationale Gemeinschaft müssen laut aufschreien und uns an die Seite derer stellen, die durch diese femizidale Logik angegriffen werden.“

Auch die Gruppe AK Asyl kritisierte die Politik der Bundesregierung scharf. Trotz der Anerkennung des Genozids durch den Bundestag im Januar 2023 finden wieder und noch immer Abschiebungen von Ezid:innen in den Irak statt. Die Gruppe berichtete von monatlichen Sammelabschiebungen und wies darauf hin, dass für den 20. August erneut eine große Abschiebung vom Flughafen Frankfurt am Main in den Irak geplant sei. So seien es nicht nur rechte Parteien und Organisationen, sondern auch die Regierung selbst, die zur rassistischen Mobilmachung beitragen.

Vertreter:innen des kurdischen Vereins aus Kassel betonten, dass durch die andauernden Angriffe des türkischen Militärs der Genozid gegen die ezidische Bevölkerung im Şengal weitergehe. Doch wiesen sie auch auf den Widerstand der Frauen und Jugend im Şengal hin, der nicht nur militärisch, sondern auch durch den Aufbau der Strukturen der Selbstverwaltung gelebt werde. Sie riefen alle demokratischen Kräfte auf, sich dem Erinnern an den Genozid anzuschließen und den Widerstand zu unterstützen.

Die Ausstellung

Auf großen Ausstellungstafeln wurde über die Region Şengal, die Geschichte des Genozids, aber auch über den Widerstand berichtet. Auf ihnen schildern ezidische Frauen und Kinder eindrücklich ihre Erfahrungen und ihren Schmerz. So berichtet auf einer Tafel A.D. (25 Jahre): „Durch die vielen Schmerzen, die ich erlitten habe, kann ich nicht sprechen. Ich kann nicht erzählen und über meine Zukunft nachdenken.“ Um diese Wunden zu heilen, muss der IS gestoppt und die rund 2.800 ezidischen Frauen, die noch immer vermisst sind, gefunden werden.

Andere Tafeln berichteten über den Widerstand und Aufbau demokratischer Selbstverwaltung im Şengal. „Dutzende ezidische Männer und Frauen bewaffneten sich und zogen an der Seite der PKK und YPG/YPJ in den Krieg. Sie stoppten weitere Überfälle und Eroberungen durch den IS und befreiten die besetzen Gebiete. Der Kampf um den Markt in Şengal-Stadt dauerte elf Monate und erforderte eine hohe Anzahl an Opfern. Noch heute liegen die Patronenhülsen dieses Kriegs dort auf den Wegen.“

Filmvorführung „Briefe aus Şengal“ am 4. August in Göttingen

Zum Ende der Mahnwache lud Defend Kurdistan Göttingen zur Filmvorführung „Briefe aus  Şengal“ am Sonntag um 19 Uhr in die Obere-Masch-Straße 10 ein. Begleitet wird die Filmvorführung von einem Gespräch mit der Regisseurin.