Die ökologische Krise ist untrennbar mit der Institutionalisierung von Macht im Staat verbunden. Der Staat fungiert als Werkzeug zur Durchsetzung von Klasseninteressen und patriarchaler Herrschaft und gründet auf einem Herrschaftsverständnis des Menschen über die Natur. Somit wird die Zähmung, Ausbeutung und sogar Zerstörung der Natur als legitimer Zweck zur Kapitalakkumulation angesehen. Die Regierung der AKP/MHP in der Türkei handelt wie der offensichtliche Beweis dieser Thesen und steht für Unterdrückung, Patriarchat, Neoliberalismus, Nepotismus und die Vernichtung von Mensch und Natur.
Dekret für beschleunigte Enteignungen erlassen
Während die Zerstörung durch ökologischen Raubbau an Wäldern, Meeren, Flüssen, landwirtschaftlichen Flächen und den Lebensräumen der Menschen von Tag zu Tag zunimmt, wird die Vorgehensweise der AKP-Regierung im Umgang mit der Natur immer offensichtlicher. In Orten wie Akbelen und Ikizdere, wo der Widerstand der Bevölkerung gegen die Ausbeutung wächst, versucht die kapitalorientierte Regierung, den Weg für Unternehmen mithilfe von Polizeigewalt und Gesetzestexten zu ebnen. Durch die am 2. November im türkischen Amtsblatt verkündeten „beschleunigten Enteignungsentscheidungen“ versucht sie, jeglichen Widerstand bereits im Keim zu ersticken und das Land zu einem Selbstbedienungsladen für das Kapital zu machen. Mit den von Präsident Erdoğan unterzeichneten Beschlüssen wurden „beschleunigte Enteignungen“ für den Bau von Windkraftanlagen in Aydın, Kayseri, Çanakkale, Izmir und Manisa sowie von Wasserkraftwerken in Gurgum (tr. Maraş) beschlossen. Mit diesen Beschlüssen werden das unbewegliche Eigentum der Menschen wie Felder, Grundstücke oder Häuser beschlagnahmt und Wind- und Wasserkraftwerke auf landwirtschaftlichen Flächen und Flüssen errichtet.
In diesem Sinne sieht der Umweltaktivist Koray Türkay den Kampf für die Umwelt als untrennbar mit dem Kampf gegen den Staat verbunden an. Er kritisierte, dass große Teile der Umweltbewegung nach wie vor den Staat als Lösung betrachteten. Die Menschen hätten die „Heiligkeit“ des Staates tief verinnerlicht, und dies müsse durchbrochen werden. Türkay beantwortete im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Mezopotamya Fragen zu den aktuellen Entwicklungen in der Umweltpolitik in der Türkei.
„Der Widerstand soll gebrochen werden“
Türkay warnte, es finde ein massiver Angriff auf den Lebensraum der Menschen statt. Das neue Dekret sei ein Ausdruck dieses Angriffs und eine Reaktion auf den wachsenden Kampf der Umweltbewegung: „Vor allem der Widerstand der Dorfbevölkerung gegen solche Angriffe hat mittlerweile Tradition. Der Staat sieht das und will das Problem auf diese Weise lösen. Durch die Beschlagnahmung von Weiden, Feldern und Privatgrundstücken der Bevölkerung versucht er, jeglichen Kampf, der hier entstehen könnte, von vornherein zu unterbinden. Die einzige Grundlage dafür ist das Dekret über beschleunigte Enteignung. Der Staat versucht so, eine Rechtsgrundlage für eine vollkommen ungerechte Situation zu schaffen.“
„Die Heiligkeit des Staates durchbrechen“
Türkay betonte, dass diese Dekrete entgegen den Erwartungen den Widerstand nicht beenden würden, stattdessen demaskiere sich der Staat selbst: „Der Widerstand wird weitergehen. Dieses Vorgehen verdeutlicht lediglich, an welchem Punkt der Staat mittlerweile angelangt ist. Wir betrachten den Staat als einen profitorientierten Mechanismus gegen das Volk. Jedoch befinden wir uns an einem ganz anderen Ort im Vergleich zu anderen kapitalistischen Staaten, in denen versucht wird, den Kapitalismus durch bürgerliche Demokratie zu verschleiern. Was die AKP/MHP-Regierung zu tun versucht, entspricht nichts anderem als dem Handeln einer Verbrecherbande. Sie hat sich zu einer Macht entwickelt, die alle gesellschaftlichen, kleinfamiliären und individuellen Ressourcen einsetzt, um die profitorientierten Bedürfnisse des Kapitals zu erfüllen. Das ist bedauerlich, aber der Glaube an die Heiligkeit des Staates ist so stark, dass es ein entscheidender Faktor ist, diesen zu durchbrechen.“
„Den Staat genau verstehen“
Türkay betonte, es sei zunächst einmal wichtig zu begreifen, dass der Staat an sich ein Mechanismus ist, der sich gegen die Gesellschaft stellt, sie angreift, usurpiert und tötet. Dafür sei es notwendig zu kämpfen. Türkay führte aus: „Wir müssen im ökologischen Kampf über die Notwendigkeit des Kampfes gegen den Staat sprechen. Es gibt immer noch die Haltung, den Staat von Seiten der Umweltbewegung zu hofieren und zu loben. Das ist ein Widerspruch und es schadet dem Kampf, wenn er ohne Bewusstsein geführt wird. Dieser Angriff wird mehr und mehr zunehmen. Die Regierung, die versucht, den Tag zu retten, greift mit dem gesamten ihr zur Verfügung stehenden Machtapparat an. Das zeigt wirklich, wie verzweifelt sie ist.“
„Organisierter Widerstand“
Trotz alledem werde es die Umweltbewegung dem Staat nicht leicht machen. Der Widerstand für den Schutz der Umwelt werde auf einer legitimeren und radikaleren Basis geführt werden müssen, so Türkay weiter: „Der Kampf der Umweltbewegung hat in den vergangenen fünf Jahren einen langen Weg zurückgelegt. Die ökologischen Kämpfe wurden vereint, und es hat sich eine Praxis des gemeinsamen Kampfes entwickelt. Diese wird sich noch wesentlich breiter manifestieren. Wir wissen, dass der Staat mit seinen Strafverfolgungsbehörden und Gerichten sich in einem Totalangriff befindet. Das war früher bei den Menschen in den Dörfern nicht so. Aber in Akbelen hat sich zum Beispiel gezeigt, dass sich die Parole ‚Du bist mein Soldat‘ in die Parole ‚Du bist hier, um mich mit der Waffe in Hand zu vernichten. Dafür werde ich von dir Rechenschaft verlangen‘ gewandelt hat. Der Staat steht nun ganz offen vor dem Kapital.“