Es ist längst bekannt, dass die Ambitionen des AKP/MHP-Faschismus weit über die Staatsgrenzen des als Türkei definierten Gebietes hinausgehen. Türkische Truppen beteiligen sich am Bürgerkrieg in Libyen, sind in Somalia aktiv, im Bürgerkrieg im Jemen und haben auch an der aserbaidschanischen Invasion der selbstverwalteten, vorwiegend von Armenier*innen bewohnten Region Arzach (Bergkarabach) mitgewirkt. Die armenische Bevölkerung aus den durch den aserbaidschanisch-türkischen Angriffskrieg besetzten Gebieten wurde weitgehend vertrieben und es wurden aserbaidschanische Loyalisten dort angesiedelt. Während in Regionen wie Libyen, dem Jemen oder auch Somalia vor allem das neoosmanische Expansionsstreben mit religiös-fundamentalistischer Basis eine Rolle spielen, kommt in Aserbaidschan eine Synthese zwischen islamistischem Expansionismus und rechtsextremen Panturkismus zum Tragen. Das türkische Regime versucht sich durch seine kriegerische Außenpolitik nach innen zu stabilisieren. Ein gefährliches Spiel, denn je mehr Särge türkischer Soldaten im Land ankommen, desto schlechter wird die Stimmung. Eine Strategie, welche die Türkei insbesondere im Krieg in Kurdistan anwendet, ist der Einsatz von Berufssoldaten, deren Familien Geheimhaltungsklauseln für den Fall des Todes ihrer Angehörigen unterschreiben müssen. Eine andere Möglichkeit, welche die Invasion in Syrien bietet, ist der Einsatz von Söldnern. Die besetzten Gebiete in Syrien wurden zu einer Brutstätte immer neuer Söldnergenerationen für den neoosmanischen Imperialismus gemacht.
„Besetzte Gebiete in Nordsyrien als Ausbildungsort für dschihadistische Söldner“
Dschihadisten und Rechtsextremisten aus Syrien, aber auch den sogenannten Turkstaaten, werden in den besetzten Gebieten in Nordsyrien trainiert und dann als Fußtruppen nach Libyen, Aserbaidschan oder gar Kaschmir geschickt, wie es aktuell zur Diskussion steht. Vor dem Sieg der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) diente vor allem der „Islamische Staat” (IS) als Bodentruppe der Türkei in Syrien. Ein IS-Kader namens Ilyas Aydın, der sich in Gefangenschaft der QSD befindet, brachte diese Politik auf den Punkt. Er erklärte: „Es geht hier nicht um den Islam. Erdoğan will kein islamisches Kalifat. Er will ein osmanisches Kalifat. Eine Zeitlang war der IS für ihn nützlich, weil wir die Gebiete Syriens entlang der Grenze zur Türkei kontrollierten. Er will aber, dass die Türkei die von uns besetzten Gebiete beherrscht.“
„Türkische Luftbrücke für Söldner von Syrien nach Aserbaidschan“
Die Journalistin Lindsey Snell recherchierte zu diesen Truppen für das Portal Greyzone und konnte einige wichtige Beobachtungen festhalten. Sie schreibt, wie auch ANF-Recherchen bestätigen, dass die Söldner der sogenannten Syrischen Nationalarmee (SNA) unter dem Versprechen von hohen Geldzahlungen nach Aserbaidschan transferiert wurden. Den Recherchen zufolge wurden die SNA-Milizionäre bereits im Juli 2020 darauf vorbereitet, in einen Einsatz nach Aserbaidschan geschickt zu werden. Ihnen wurde gesagt, sie würden als Grenzpatrouillen eingesetzt, ohne einen Kampfauftrag. Am 22. September 2020 erhielt Snell von einer Quelle aus der Sultan-Murad-Brigade ein Foto von Dutzenden von Söldnern auf einem Frachtflugzeug. Die Quelle berichtete, das Flugzeug fliege nach Baku und es würden noch mehr folgen.
Offenbar hatte die türkische Armee eine regelrechte Luftbrücke für dschihadistische Söldner nach Aserbaidschan eingerichtet. Als am 27. September 2020 der Angriffskrieg auf Arzach begann, waren schon unzählige Dschihadisten aus Syrien dort im Einsatz.
„In Efrîn benahmen sich die Kämpfer am furchtbarsten“
Gegenüber Snell sprechen die SNA-Milizionäre ganz offen. Ein Söldner der Hamza-Division berichtet über die Geschichte der SNA: „In Efrîn begannen wir ausschließlich für die Türkei zu kämpfen. In Efrîn benahmen sich die Kämpfer am furchtbarsten. Sie [SNA] stahlen Eigentum und Autos. Sie entführten kurdische Zivilisten und verlangten Lösegeld für ihre Familien. Sie ermordeten Zivilisten und sie vergewaltigten Frauen.“ Dies bestätigt einmal mehr die Vorwürfe gegen die Besatzungstruppen in Nordsyrien.
„Als Erdoğan nach Libyen schickte, waren wir bereits Söldner und Diebe“
Der Söldner fährt fort: „Als Erdoğan zwei Jahre später beschloss, [SNA-Kämpfer] nach Libyen zu schicken, waren wir bereits Söldner und Diebe.“ Die Söldner wurden ab Dezember 2019 zur Unterstützung des Muslimbruderregimes nach Libyen eingeflogen. SNA-Quellen sprechen von über 15.000 Söldnern, die von der Türkei nach Libyen geschickt worden sind. Sie wurden ähnlich wie in Arzach unter Beschönigung der Situation nach Libyen gebracht und massenhaft als Kanonenfutter an den gefährlichsten Frontabschnitten eingesetzt.
In Berichten aus Libyen sprechen SNA-Söldner offen von ihren Kriegsverbrechen, wie sie zivile Häuser plündern und elektrische Drähte für Altmetall rauben, um sie an die Milizen des Muslimbruderregimes verkaufen. Dies dürfte aber nur die Spitze des Eisbergs sein. Im Februar 2020 gab Erdoğan zu, dass SNA-Kämpfer nach Libyen geschickt worden seien. „Die Türkei ist mit einer Ausbildungstruppe da“, sagte er und fügte an: „Und es gibt auch Leute aus der syrischen Nationalarmee.“
Lehre aus Libyen: Söldnern wurden Telefone weggenommen
Doch das AKP/MHP-Regime zog offenbar eine Lehre aus Libyen und dem damit zusammenhängenden Pressedebakel. Den Söldnern wurden bei ihrer Ankunft in Aserbaidschan die Telefone abgenommen. Ein Söldner berichtete: „Sie nahmen zuerst unsere Telefone. Und auch das Internet funktioniert normalerweise nicht. Sie warfen uns direkt ins Gefecht. Sie hatten uns, bevor wir gegangen sind, gesagt, dass es keine Kämpfe geben würde, und wir nur die Grenze für die Aserbaidschaner bewachen würden. Aber bereits fünf aus unserer Gruppe sind durch Beschuss gestorben. Wir wissen nicht, wo wir sind. Wir wollen nur weg hier.“
In den ersten Tagen kamen dennoch einige Videos von Söldnern in Arzach ans Licht. Vertreter aus Russland, Frankreich und den USA gaben an, sie hätten Beweise dafür, dass die Türkei SNA-Kämpfer nach Aserbeidschan entsendet. Söldner, die Videos posteten, sollen streng bestraft worden sein. Ein Söldner der Hamza-Division berichtet, dass ein Milizionär, der ein Video gepostet hatte, von aserbaidschanischen und türkischen Geheimdiensteinheiten gefangen genommen wurde: „Sie schlugen ihn. Sie traten ihn. Sie taten dies vor unser aller Augen, um Angst zu schüren. Die Türken haben diesen Mann weggebracht und wir haben seitdem nichts mehr von ihm gehört. Sie waren sehr entschlossen, Informationslecks bei den Syrern in Karabach zu stopfen.“
SADAT als Kriegslogistiker
SNA-Quellen berichten, es seien etwa 2.700 SNA-Angehörige in Aserbaidschan. Offenbar wurde die Entsendung der Söldner über den Söldnerkonzern SADAT abgewickelt. Der Konzern gehört dem ehemaligen Chefmilitärberater Erdoğans, Adnan Tanrıverdi. SADAT hatte bereits zuvor die Logistik für den Transport von Söldnern nach Libyen übernommen. So versuchte die türkische Regierung, ihre direkte Beteiligung zu kaschieren.
Die turkmenische Karte
Es wird vermutet, dass der Kommandant der rechtsextremen panturkistischen Sultan-Murad-Brigade, Khaled Turkmani Abu Suleiman, als Verbindungsmann zum SADAT-Konzern im Rahmen des Einsatzes in Aserbaidschan gedient hat. Die SNA-Söldner in Arzach kamen hauptsächlich aus drei Fraktionen: Sultan-Murad, Sultan-Suleiman-Shah und der Hamza-Division. Bei mindestens 500 der Söldner soll es sich um Turkmenen gehandelt haben. SNA-Quellen berichten: „Es gab fünf Söldnerlager in Aserbaidschan. Die Hamza-Division und Sultan Murad hatten jeweils zwei Lager und Sultan Suleiman Shah hatte eines. Jedes der fünf Lager hatte eine turkmenische Brigade.“
Mustafa Kassab (Name von Snell geändert), ein ehemaliger SNA-Kommandeur, sagt, dass Turkmenen in der SNA einen Sonderstatus genießen: „Es gibt eine klare Unterscheidung zwischen uns, den syrischen Arabern, und ihnen, den Turkmenen. Wir nannten sie ‚die neuen Alawiten‘. Die Art und Weise, wie Alawiten im Assad-Regime besser gestellt waren als jeder andere in der syrischen Gesellschaft, ist die gleiche bei den Turkmenen. Denn für die Türkei sind sie Türken. Wir sind nur Araber."
Andere Söldner bestätigen: „Es war nie klarer als in Aserbaidschan, wie die Türkei die Turkmenen anders schätzt als uns. Die Araber agierten unter den gefährlichsten Bedingungen. Die turkmenischen Kämpfer waren unsere Übersetzer, arbeiteten in der Küche oder sie bewachten uns, um uns daran zu hindern, unsere Lager zu verlassen. Ich glaube nicht, dass ein einziger turkmenischer SNA-Kämpfer in Aserbaidschan gestorben ist.“
„Lohn als Schweigegeld“
Nach der Rückkehr nach Syrien wird den Söldnern gedroht, dass sie ihren Sold nicht erhalten, wenn sie nicht schweigen. Ein Söldner sagte zu Snell: „Die Kommandeure sagten uns, dass wir, wenn wir nach Syrien zurückkehrten, schnell das bekommen würden, was uns geschuldet werde; unter der Vorrausetzung, dass wir schweigen. Und wir erfuhren, dass die Kommandeure bereits bezahlt wurden und die meisten turkmenischen Kämpfer auch.“
„Schlimmer als unter Assad“
Er fährt fort: „Das hat uns der Sultan, der osmanische Kalif, angetan. Wer weiß, wohin wir als nächstes geschickt werden. Wir hören Jemen. Wir hören Katar. Wir sind Wegwerfkräfte für die Türkei. Wir haben Kampferfahrung. Niemand kümmert sich, wenn wir sterben.
Jeder in der SNA, selbst der loyalste gegenüber der Türkei, weiß, dass die Türkei nicht versucht, den Syrern zu helfen. Sie unterstützt unsere Revolution nicht, weil die Revolution nicht mehr existiert. Die Türkei hat sie zerstört, und jetzt kämpfen wir nur noch für die Interessen der Türkei. Ich schwöre bei Gott, ein wachsender Teil von uns hier wünscht sich, dass wir in der Zeit zurückgehen könnten, vor 2011, vor dem Krieg gelebt zu haben. Weil mit [der] Autorität [der Türkei] im Nacken zu leben, schlimmer ist als unter Assad.“