Das letzte Mal als die Türkei und Aserbaidschan eine gemeinsame Militärübung abhielten, gab es einen Monat später einen Angriffskrieg gegen Arzach (Bergkarabach). Beide Länder wollen Anfang Februar ein weiteres gemeinsames Manöver starten — diesmal in Kars, unweit der Grenze zu Armenien, nachdem die letzte Übung noch in der aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan stattfand. Beide Länder haben die Beziehungen seit dem Krieg gegen Arzach noch einmal vertieft. Die türkischen Streitkräfte haben sich in Aserbaidschan festgesetzt und planen weitere Militärstützpunkte quer über das Land verteilt und damit auch in Länkäran, direkt an der Grenze zu Iran und mitten im Plateau, wo die Talyschen* leben.
Kein Zufall: Von fast niemandem bemerkt wurde exakt am 9. November 2020 der Historiker und Aktivist Fakhraddin Abbasov von Aserbaidschan hingerichtet - unter dem Vorwand, dass er sich angeblich selbst umgebracht habe. Er ist nicht der erste Aktivist der Talyschen, der einer Verfolgung und Ermordung ausgesetzt ist. Sein Todeszeitpunkt spricht Bände: An jedem Tag also, als das trilaterale Abkommen zwischen Armenien, Aserbaidschan und Russland unterzeichnet wurde, das den Krieg beendete. Von Frieden kann jedoch keine Rede sein, da es nicht nur einzelne Zwischenfälle und Scharmützel in der Region Hadrut gab, sondern vor allem, weil sich die bellizistische Politik Ankaras und Bakus seitdem fortsetzt. Die aggressive Politik des Erdogan-Regimes gegen Rojava und insbesondere Ain Issa ist bekannt und dauert an, aber auch das Aliyew-Regime rüstet sein Militär weiter auf und wird seinen Militäretat um fast 21 Prozent erhöhen.
Sicherlich steckt hinter diesen Taten eine panturkistische Kriegslust gegenüber Armenien, die besonders darauf abzielt, die südarmenische Provinz Sjunik zu erobern und Aserbaidschan mit Nachitschewan zu verbinden. Doch Ilham Aliyew ging ja in seiner Rede bei der Militärparade am 10. Dezember noch viel weiter: „Sangesur, Sewan und Khanat Jerewan sind historisch aserbaidschanische Länder” ließ er verkünden. Recep Tayyip Erdogan setzte noch einen drauf und pries die „Seele Enver Paschas, die nun ruhen kann”: Enver Pascha war nicht nur einer der Organisatoren des türkischen Genozids 1915, sondern ließ auch im September 1918 mehr als 30.000 Armenier*innen in Baku umbringen, als er mit seiner „Armee des Islam” das Osmanische Reich mit Aserbaidschan verbinden wollte.
Überhaupt war diese Militärparade eine beispiellose Provokation und eine Warnung, dass das panturkistische Projekt nicht nur eine Idee, sondern eine blutige Realität ist, die dazu führte, dass aus Arzach 40.000 Menschen fliehen mussten. Das Projekt ist keineswegs beendet, wenn der Staatschef Aserbaidschans öffentlich Ansprüche auf die Hauptstadt Armeniens erhebt und Erdogan einen Völkermörder preist. Das kommende Manöver in Kars zeigt einmal mehr, dass Armenier*innen auf der ganzen Welt bereit sein müssen, wenn es einen neuerlichen Angriff auf Armenien gibt.
Armenischer Defätismus
Infolge des Krieges, aber auch nach den abermaligen Brüchen des Waffenstillstandes durch Aserbaidschan gibt es derzeit mindestens 100 armenische Kriegsgefangene. Als am 10. Januar Wladimir Putin, Nikol Paschinjan und Aliyew in Moskau zusammenkamen, gab es für die Familien der gefangenen Soldaten Hoffnung, dass die Gefangenen freikommen würden — stattdessen wurden Handels- und Verkehrsvereinbarungen getroffen. Die Südkaukasusbahn von Russland über Aserbaidschan und Südarmenien und Nachitschewan bis in die Türkei soll wieder in Betrieb genommen werden. Eine Maßnahme, von der hauptsächlich Russland profitieren wird, da es die armenische Eisenbahngesellschaft 2008 gekauft hatte und nun einen weiteren Zugang in die Region bekommt.
Die angeschlagene armenische Regierung um Paschinjan erhofft sich dadurch einen wirtschaftlichen Aufschwung. Paschinjan sagte demgemäß: „Die Vereinbarung von Moskau am 11. Januar eröffnet Armenien neue wirtschaftliche Möglichkeiten und wir wollen diese Möglichkeiten voll ausschöpfen.”
Dazu passte auch die Aussage des türkischen Außenministers Mevlüt Çavuşoğlu : „Wir werden unsere Beziehungen zu Armenien normalisieren. […] Armenien und das armenische Volk werden am meisten von diesen Vereinbarungen profitieren.” Auch Lena Nasarjan von Paschinjans Bündnis der Mein-Schritt-Allianz sagte, dass „wir danach streben müssen, langfristigen oder sogar permanenten Frieden mit unseren Nachbarn zu etablieren.”
Im besten Falle ist diese Haltung der armenischen Regierung eine tödliche Naivität, im schlimmsten Falle ist es blanker Verrat am eigenen Volk. Wie passt es denn zu den Aussagen des Lakaien von Erdogan, Mevlüt Çavuşoğlu, dass er mit Armenien die Beziehungen „normalisieren” will und andererseits jetzt schon aserbaidschanische Soldaten und Panzer in Kars eingetroffen sind, um eine der größten Militärübungen in der aserbaidschanischen Geschichte für nicht weniger als zwölf Tage zu veranstalten? Wie soll diese Normalisierung mit einem Staat aussehen, der die letzten armenischen Kirchen in der Türkei in Zentren für „humoristische Künste” und Hotels verwandeln will?
Die Haltung der armenischen Regierung hat etwas schizophrenes an sich, da sie zum 1. Januar dieses Jahres beschloss, türkische Waren und Produkte im Wert von 300 Millionen US-Dollar zu boykottieren und zu 70 Prozent durch iranische Importe zu ersetzen. Dieser Boykott soll zunächst sechs Monate andauern und wurde mitten im Krieg als symbolische patriotische Maßnahme beschlossen, soll aber nach ersten Aussagen der Regierungsmitglieder verlängert werden. Sieht so der Wandel durch Handel der armenisch-türkischen Beziehungen aus?
Die Strategie
Die gegenwärtigen Regime in Baku und Ankara sind auf aggressive Expansion und Krieg ausgelegt. Im Falle der Türkei ist das seit Jahren eindeutig und der Welt offensichtlich; im Falle Aserbaidschans kennen das die meisten erst seit Kriegsbeginn. Aber seit 27 Jahren hatte der aserbaidschanische Staat mit der Aliyew-Familie an der Spitze nichts anderes im Sinn, als Revanche für den letzten Arzach-Krieg auszuüben und die Niederlage vergessen zu machen. Aliyew selbst hob die besondere Rolle derjenigen hervor, die heute zwischen 27 und 32 Jahre alt sind, d.h. noch Jugendliche bei seinem Amtsantritt 2003 waren und die revanchistische Generation ausmachen.
Bestärkt durch die milliardenschweren Öleinnahmen kaufte sich Aserbaidschan die modernsten Waffensysteme und gab 2020 fünf Prozent seines BIP für das Militär aus — ein Militär auf Steroiden also, weil gleichzeitig die Motivation der eigenen Soldaten mangelhaft war und eine Desertierungsquote von 20 Prozent vorlag. Dementsprechend gab es mit türkischer Hilfe im 44-Tage-Krieg zwar einen Sieg, aber einen teuer erkauften: Einerseits mussten das schiitisch geprägte Land und der säkular eingestellte Staat auf islamistische Terroristen aus Syrien und sogar pakistanische Söldner zurückgreifen, andererseits spricht man selbst in regierungsnahen Medien von einem Blutzoll von 9 bis 12.000 gefallenen Soldaten und damit zwei- bis dreimal mehr als auf armenischer Seite.
Dies lag an einer eigentlich unzureichenden militärischen Taktik, die ein schnelles Vorrücken auf die symbolisch wichtige Stadt Schuschi priorisierte und hohe Verluste und lange und strapaziöse Versorgungslinien in Kauf nahm. Es ist interessant, dass die sogenannte uneinnehmbare Festung Schuschi, die südlich von hohen Felsen geschützt ist, dennoch erobert wurde — oder besser gesagt von Armenien aufgegeben wurde. Schuschi wurde letztlich ohne Kampf dem Aliyew-Regime geschenkt, das bis heute (!) keine Versorgungsstraße zur Stadt hat und auf den Schutz der russischen Friedenstruppen angewiesen ist. Mit einer Verteidigung und dem einsetzenden Winter wäre es für die aserbaidschanischen Truppen unmöglich gewesen, die Stadt einzunehmen. Die Aufgabe Schuschis bleibt ein Thema in den nationalen Debatten, da der Eindruck nicht weggeht, dass dieser Krieg absichtlich verloren wurde.
Der Angriffskrieg Aliyews wäre ohne die Einnahme Schuschis eine Niederlage gewesen. Bereits nach dem Waffenstillstand gab es in Aserbaidschan Verwunderung darüber, warum sie nicht weitermarschierten und die Präsenz der russischen Friedenstruppen duldeten. Diese Stimmen „vergessen” aber, dass die aserbaidschanischen Truppen am Abend des 9. November von Nachitschewan aus einen russischen Helikopter im armenischen Luftraum abschossen und zwei Soldaten töteten. Im Rahmen des strategischen Bündnisses mit Armenien wäre dies für Russland der casus belli gewesen — stattdessen wurde ein Abkommen unterzeichnet, dass die ethnische Säuberung Arzachs zementierte.
Armenien muss dahingehend begreifen, dass die russischen Truppen allein aus ihrem Interesse dort sind und nicht, um die Armenier*innen zu schützen. Dementsprechend griffen sie auch nicht ein, als aserbaidschanische Truppen die letzten armenisch kontrollierten Stellungen in der Region Hadrut angriffen und einnahmen, wohlgemerkt nach dem Waffenstillstand Mitte Dezember.
Mit diesem Waffenstillstand wird auch in Zukunft kein Frieden eintreten, sondern nur eine Übergangsphase zum nächsten Krieg. Die ersten Frontlinien werden aber nun nicht mehr in Aghdam oder Karvachar (die Aserbaidschan im Krieg niemals erobern konnte, sondern übergeben bekam), sondern in Sjunik, Gegharkunik und Martuni sein. Erdogan und Aliyew haben eine faschistische Generation aufgezogen, die vereint ist im anti-armenischen Hass. Es ist kein Zufall, dass jegliche Armenier*innen, die ihre Häuser vor den aserbaidschanisch-türkischen Truppen nicht verlassen wollten, allesamt auf grausame, dem IS-Terrorismus in nichts nachstehende Art und Weise umgebracht wurden: Nina Davtyan war 80, Genadi Petrosyan 69, Alvard Tovmasyan 58 Jahre alt — sie alle wurden unvorstellbar brutal gefoltert, ermordet, ihre Körper verstümmelt, ihre Ohren und Hände abgeschnitten. Diese drei hilflosen Menschen stehen stellvertretend für dutzende weitere Opfer dieser Art. Im Falle von Genadi Petrosyan, der zudem noch ein Überlebender des Sumgait-Pogroms 1988 war, wurde die Tat sogar gefilmt und verbreitet.
Diese Morde zeigen die Handschrift des panturkistischen Faschismus und sie sollten den Armenier*innen eine Lehre sein, sich zu organisieren und den Kampf aufzunehmen um ihrer eigenen Existenz willen. Sie sollten das nicht erst machen, wenn die panturkistischen Truppen sich von Kars nach Jerewan aufmachen: Es liegen nur eineinhalb Stunden dazwischen.
*Die Talyschen sind eine iranischsprachige Volksgruppe im Kaukasus, die im aserbaidschanisch-iranischen Grenzgebiet entlang des Kaspischen Meeres lebt. In Aserbaidschan leben sie in den Regionen Länkäran, Lerik und Masalli, eindeutige Bevölkerungsstatistiken gibt es nicht. Nach der Organisation der nicht-repräsentierten Nationen und Völker gibt es 540.000 Talyschen in Aserbaidschan und Iran (Stand 2015), einer US-amerikanischen Studie zufolge leben weltweit etwa zwei Millionen Angehörige der Talysch-Nation. Laut einer aserbaidschanischen Volkszählung sollen in Aserbaidschan nur 80.000 Talyschen leben.