Eziden und Armenier: Vereint im Widerstand

Im Krieg in Arzach haben auch Eziden aus Armenien gekämpft, die Nachkommen der Überlebenden von 1915 sind. Wie tief das Schicksal beider Völker miteinander verbunden ist, zeigen die Eindrücke von Demir Sönmez von der Beerdigung eines ezidischen Soldaten.

„Sosehr 1915 als Völkermord an den Armeniern bekannt ist, gehören auch wir Eziden zu den großen Opfern dieses Genozids. Gleichermaßen wie die armenischen Überlebenden konnten auch wir in Armenien ein neues Leben aufbauen. Der Barbarei aus der Vergangenheit haben wir gemeinsam standgehalten. Meine Familie floh 1915 aus dem Dorf Kondurak bei Kars. In diesem Sinne ist Armenien, dessen Bürger ich bin, und das armenische Volk, mit dem mich ein gemeinsames Schicksal verbindet, von unschätzbarem Wert. Dies ist mein Land, meine Heimat.”

Das sind Worte von Boris Murazi, Vorsitzender der „Nationalen Ezidischen Union Şengal” und Herausgeber der in Jerewan erscheinenden Zeitung Dengê Êzîdî. Ich bin in dieses Land gereist, um als Journalist über den Krieg in Arzach zu berichten und die Entwicklungen zu beobachten. Dort erfuhr ich von den in Armenien lebenden Eziden, die dem Aufruf zur Generalmobilmachung durch die armenische Regierung  gefolgt sind und am Krieg teilgenommen haben. Es sind ezidische Einheiten aufgestellt worden, die Seite an Seite gegen die als gemeinsamen Feind geltenden Kräfte kämpften. Am 18. November fuhren mein Freund Shant Sevag und ich in das 65 Kilometer von Jerewan entfernte Dorf Kaniashir, das früher Sangyar hieß. Unser Ziel war es, mit der Dorfbevölkerung über den Krieg zu sprechen.

Ezidische Soldaten in Kaniashir © Demir Sönmez

Seitdem Tito, der Kommandant der örtlichen ezidischen Einheiten, von unserem Plan erfahren hatte, rief er uns auf dem Weg nach Kaniashir immer wieder an und fragte, wann wir eintreffen würden. Als wir endlich ankamen, sahen wir uns konfrontiert mit einem Trauerzelt mitten auf dem Dorfplatz, der gefüllt war mit hunderten Menschen. Wir hatten verstanden: Kommandant Tito wollte, dass wir es rechtzeitig zur Beerdigung eines in Arzach gefallenen ezidischen Soldaten schafften, damit wir die historische Verbindung zwischen den Eziden und Armeniern besser verstehen konnten.

Nach einer kurzen Unterredung mit den ezidischen Soldaten und den Dorfbewohnern wandte ich mich in Richtung Trauerzelt. Jeder Schritt, den ich ging, brachte mich näher an den Schmerz und an die Wehklagen, die mir so vertraut waren. Auch wenn die Sprache der Trauer manchmal eine andere war, um im nächsten Moment zu einer gemeinsamen zu wechseln, verspürte ich in diesem Augenblick den Schmerz, den ich aus Kurdistan gewohnt war.

Leichnam des armenisch-ezidischen Soldaten Têmûr Kotoyan © Demir Sönmez

Der Leichnam des in Arzach gefallenen ezidischen Soldaten Têmûr Kotoyan wurde in der Mitte des Zeltes aufbewahrt. Er war umgeben von Kindern, jungen Frauen, Müttern und den einheimischen Musikern Noro und Vlo. Es stiegen kurdische Klagelieder empor, die von der Duduk begleitet wurden. Dieser Moment stand sinnbildlich für den gemeinsamen Schmerz beider Völker und ihrer gemeinsamen Geschichte.

Just in diesem Augenblick betrat eine Gruppe junger Männer das Zelt. Nacheinander beugten sie sich zu dem leblosen Körper von Têmûr hinunter und küssten ihn. Was kann ein Mensch beim Anblick dieses Schmerzes tun? Meine Augen suchten Shant Sevag. Als ich ihn ansah, bemerkte ich, dass er seine Kamera beiseitegelegt hatte und weinte. Shant Sevag ist ein junger armenischer Künstler, den ich in Stepanakert, der Hauptstadt von Arzach, kennengelernt habe. Auf jeder Beerdigung, die wir seitdem begleitet hatten, sah ich ihn stets weinen. Da wurde mir klar, dass Schmerzen keine Identität haben.

Têmûr Kotoyan wird zu Grabe getragen © Demir Sönmez

Zu Beginn des letzten Krieges gegen Aserbaidschan gingen Têmûr und sein Bruder Onnig an die Front, um Arzach, das sie als ihre eigene Heimat betrachteten, gemeinsam mit ihren armenischen Geschwistern gegen den Feind zu verteidigen. Am 7. November geriet der gerade mal 18 Jahre alte Têmûr in der Stadt Schuschi in einen Hinterhalt aserbaidschanischer Soldaten und wurde hingerichtet. Sein 20-jähriger Bruder Onnig kämpfte in der Nähe von Dschrakan (Cäbrayil), als der Kontakt zu ihm abbrach. Er gilt als verschollen.

Arthur Kotoyan, der Vater der beiden, beschrieb sein Leid mit diesen kurzen Sätzen: „Ich habe drei Kinder. Einen Sohn übergebe ich mit meinen eigenen Händen der Erde, von meinem anderen Sohn erhalte ich keine Nachricht. Ich habe eine Tochter, die in Moskau lebt.“

An diesem Tag habe ich ein weiteres Mal verstanden, wie wahr die Worte von Boris Murazi doch sind und wie tief das Schicksal dieser beiden alten Völker historisch miteinander verknüpft ist. Es war diese Verbundenheit zueinander, die die Jugend beider Völker im Kampf um Arzach Schulter an Schulter vereinte. Auch wenn es einige da draußen befremdlich fanden; kann es etwas natürlicheres und moralischeres geben als die Kinder des ezidischen Volkes, die mit ihren armenischen Geschwistern an die Front ziehen und ihre Heimat gegen den gemeinsamen Feind verteidigen?


* Demir Sönmez ist armenisch-kurdischer Herkunft und wurde in Erzîrom (tr. Erzurum) geboren. Seit 1990 lebt und arbeitet er als Journalist und Fotograf in Genf in der Schweiz.