Würde man es gut mit Armenien meinen, könnte man sagen, das Land habe eine sehr lebendige Demokratie: In der Tat kommt es jeden Tag nicht nur zu lebhaften Auseinandersetzungen über die Zukunft des Landes, sondern auch zu Massenmobilisierungen. Das Kriegsende ist nunmehr vier Wochen her, aber das Land steuert auf eine ungewisse Zukunft. Premierminister Nikol Paschinjan steht im Fokus der Debatten, weil er derjenige war, der das demütigende Abkommen unterzeichnete, mit dem Armenien die Kapitulation im sechswöchigen Krieg gegen die Türkei und Aserbaidschan erklärte. Während der türkische Faschismus als nächstes Rojava mit den Angriffen auf Ain Issa ins Visier nimmt und die syrischen Terroristen nun in den Donbass oder gar in den Kaschmir schicken will, befindet sich Armenien in einer tiefen politischen Krise.
Am Samstag kam es wieder zu Massendemonstrationen seitens der Opposition. Diese hat sich in 17 Parteien zusammengefunden, von denen aber nur eine im Parlament vertreten ist. Die beiden bekanntesten Parteien in dieser Koalition befinden sich außerhalb des Parlaments: Zum einen die Republikanische Partei der beiden ehemaligen Präsidenten Sersch Sargsjan und Robert Kotscharjan — und zum anderen die alte und in der Diaspora nicht unwichtige Armenische Revolutionäre Föderation (ARF), auch Daschnaken genannt. Gemeinsam organisieren sie seit dem Waffenstillstand Kundgebungen und Demonstrationen und fordern den Rücktritt des Premiers, der für sie ein „Verräter” ist.
Opposition stellt Ultimatum
Für den 12. Dezember haben sie ihm ein Ultimatum gestellt: Sollte er bis dahin nicht zurücktreten, werde es massenhafte Aktionen des zivilen Ungehorsams im ganzen Land geben. Eine klare Anspielung an die Massenbewegung im Frühjahr 2018, als fast das gesamte Land auf den Straßen war und Armenien so lange paralysierte, bis Sargsjan zurücktrat und Paschinjan Anfang Mai Premierminister wurde. Tatsächlich hat es in den vergangenen Wochen immer wieder Versuche von Verkehrsblockaden gegeben; allerdings nahmen entweder nicht so viele Leute daran teil oder die Polizei griff angesichts des Kriegsrechts rasch ein, als Demonstrationen noch verboten waren. Das Kriegsrecht wurde nun aufgehoben, Demonstrationen sind wieder erlaubt und die Opposition hat Wasgen Manukjan als Kandidaten aufgestellt — allerdings ohne eine realistische Aussicht, dass er im Parlament zum Premier gewählt wird.
Die Rückkehr von Robik?
Was steckt also hinter diesen Aktionen und wie wird sich die Zukunft des Landes entwickeln?
Wasgen Manukjan ist kein Unbekannter in der armenischen Politik. Er war von 1990 bis 1991 der erste Premierminister des Landes und sodann von 1992 bis 1993 — also inmitten des Befreiungskrieges von Arzach — der Verteidigungsminister. Der Mathematiker gelangte auch deswegen zu diesen Positionen, weil er Mitglied des Karabach-Komitees war, welches in erster Linie Intellektuelle sammelte, die die Frage des Selbstbestimmungsrechts für Arzach vorantrieben. So war zum Beispiel auch die bekannte Dichterin Silvia Kaputikian Mitglied des Komitees, ebenso wie der erste Präsident des Landes: Levon Ter-Petrosjan.
Gegen eben jenen Ter-Petrosjan unterlag Manukjan 1996 in den Präsidentschaftswahlen, allerdings unter dem Verdacht, dass die Wahlen korrupt und unfair waren. Manukjan soll nach Meinung der 17 Parteien eine vereinende Figur sein, welche die „nationale Bewegung der Errettung” anführt, nachdem das Land am Rande des Abgrunds steht. Doch viele Analyst*innen sind sich darin einig, dass hinter dem nunmehr unscheinbaren und lange politisch nicht sehr aktiven Manukjan vor allem jener steht, den man auch verkürzend (und verniedlichend) „Robik” nennt, weil es in Armenien üblich ist, die Politiker*innen beim Vornamen zu nennen: Den zweiten Präsidenten des Landes, Robert Kotscharjan (1998-2008).
Die Sache mit den Vornamen sollte er als Präsident persönlich nehmen, nachdem ihm ein früherer Klassenkamerad 2001 in einem Café zufällig begegnete und ihn mit „Hi Rob” (oder richtiger „privet Rob” aus dem Russischen) ansprach und sodann von seinen Bodyguards totgeschlagen wurde, weil er diese Anrede als „Beleidigung” wahrnahm. Wer das Gelesene und Unglaubliche nicht glaubt, kann den Namen des Opfer, Poghos Poghosyan, bei Wikipedia eingeben.
Also Rob, der beste Beziehungen zum Kreml hat und selbst aus Arzach stammt. Im Gedächtnis des armenischen Volkes hat er nicht so eine schlechte Stellung wie Sersch Sargsjan, zumal das Land unter ihm tatsächlich einen gewissen Wirtschaftsaufschwung erlebte (vor allem wegen dem Bausektor) und der dieser Tage behauptete, dass es mit ihm „keinen Krieg gegeben hätte”. In der Tat schien eine Friedenslösung mit ihm 2001 am nächsten greifbar zu sein, als er mit Heydar Aliyew in Key West, Florida zusammenkam und nach Aussagen der beteiligten Diplomat*innen „zu 80 Prozent” einen Friedensvertrag mit Aserbaidschan hatte. Dieser kam nie zustande, weil Aliyew fürchtete, dass er dafür zu wenig Rückhalt in der Bevölkerung, aber auch innerhalb der eigenen Bourgeoisie hatte.
Roberts Herrschaft war aber nichtsdestotrotz davon geprägt, dass die Korruption ein Teil der Staatspolitik blieb und die Macht der Bourgeoisie expandierte. Dass seine Regierungsjahre im Vergleich zu den bleiernen Jahren von Sersch (2008-2018) etwas besser dastehen, hängt damit zusammen, dass Armenien als (Halb-)kolonie innerhalb der Weltwirtschaft eine unbedeutende Rolle einnimmt und vollkommen abhängig vom ausländischen Kapital ist: Erlebt dieses eine Konjunktur wie unter Robert, profitiert die armenische Wirtschaft, kommt wie mit den Jahren von Sersch eine Krise dazu, bricht auch das BIP Armeniens wie 2009 innerhalb eines Jahres um 15 Prozent ein.
Der „Karabach-Clan“
Robert und Sersch wurde nicht selten vorgeworfen, Teil des „Karabach-Clans” zu sein, die aus Arzach kommen und nun die Elite des Landes darstellen. Beide wuchsen in den Sowjetjahren gemeinsam mit aserbaidschanischen Nachbarn und Freund*innen auf. Während Sersch sogar aserbaidschanisch spricht, beherrscht Robert bis heute den Arzacher Dialekt besser als jene Variante, die in Jerewan gängig ist. Die Tatsache, dass beide in der Jugendorganisation der KPdSU, dem Komsomol, erstmals politisch aktiv wurden und aserbaidschanische Freund*innen hatten, hinderte sie nicht daran, zu Beginn der Bewegung für Arzach zu Nationalisten zu werden und den Hass unter den Völkern zu verbreiten.
Ihre zwanzigjährige Herrschaft ist davon geprägt, dass die Bourgeoisie in mafiöser Weise herrschte und keinerlei Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit einhielt, geschweige denn die sozialen und demokratischen Rechte der Arbeiter*innen, Frauen und armen Bevölkerung achtete. Es liegt auf der Hand, dass weder Rob noch seine diversen Marionetten und Verbündeten eine zukunftsfähige Alternative für die Leiden und Nöte des armenischen Volkes bieten können.
Untätigkeit der Regierung
Doch es wäre vermessen zu denken, der jetzige Premier Nikol könnte diese Alternative bieten. Vier Wochen nach dem Krieg bedeuten auch vier Wochen der Untätigkeit der Regierung, die Kriegsgefangenen zu befreien. Tag für Tag kommen neue demütigende, teilweise sehr brutale Videos von Mord und Folter ans Licht, die die Qualen der armenischen Soldaten und Zivilisten in aserbaidschanischer Hand zeigen. Während sich in Jerewan also die bürgerlichen Parteien einen Machtkampf liefern und im Begriff stehen, sich gegenseitig zu zerfleischen, geht das Leiden der Familien der Gefallenen und Geflüchteten weiter. Immerhin: Etwa 30.000 Menschen konnten wieder nach Arzach zurückkehren.
Hovhannes Gevorkian (27) wurde in Armeniens Hauptstadt Jerewan geboren. Der Jurist lebt und arbeitet in Berlin.