Der Karabach-Krieg und das Ende der Illusionen

Die Armenier gehen einer ungewissen Zukunft entgegen: Nach den hohen Verlusten im 44-Tage-Krieg sind sie militärisch geschwächt. Die Abhängigkeit von Russland wird immer mehr die Form eines Protektorats annehmen, außenpolitische Optionen bleiben begrenzt.

Der am 27. September von Aserbaidschan zur Eroberung Berg-Karabachs eröffnete Krieg wurde nach  44 Tagen schwerer Kämpfe – zumindest vorläufig - durch das Abkommen vom 9. November beendet. Die russische Regierung hatte frühzeitig versucht, eine Feuerpause zu vermitteln: Am 9. Oktober wurde in Moskau nach elf Stunden Verhandlungen eine „humanitäre Feuerpause“ vereinbart, die jedoch nicht eingehalten wurde. Die aserbaidschanische Armee setzte ihre Offensive unbeirrt fort und es wurde immer deutlicher, dass die Armenier sie nicht aufhalten konnten. Ihre Geschützstellungen, Panzer und Luftabwehreinheiten wurden von der aserbaidschanischen Armee durch den Einsatz von Drohnen ausgeschaltet. Die Zivilbevölkerung in Stepanakert, der Hauptstadt Berg-Karabachs, und anderer Orte waren den Raketen schutzlos ausgeliefert; viele flohen deshalb in die Republik Armenien.

Angesichts der für die Armenier dramatischen Entwicklung der Lage unternahm Wladimir Putin einen zweiten Versuch, die Kämpfe zu beenden. Die Republik Armenien ist der einzige „strategische Partner“ Russlands im Südkaukasus. Das armenische Militär war mit russischen Waffen ausgerüstet und viele armenische Offiziere waren an russischen Militärakademien ausgebildet worden. Eine Niederlage der armenischen Streitkräfte hätte somit als eine Niederlage Russlands gedeutet werden können. Eine Woche nach dem ersten Treffen unternahm die russische Regierung einen zweiten Anlauf, um eine Feuerpause zu erreichen. Die Bemühungen von Außenminister Sergej Lawrow, dem weltweit wohl erfahrensten Diplomaten, blieben wieder folgenlos und trotz der erneut vereinbarten Feuerpause ging der Krieg weiter.

Bereits sehr früh nach Beginn des Krieges wurde deutlich, dass die Armenier nicht in der Lage waren, den Vormarsch der gegnerischen Truppen aufzuhalten. Türkische Militärs und dschihadistische Söldner aus Syrien verstärkten die ohnehin zahlenmäßig weit überlegenen aserbaidschanischen Streitkräfte. Sie waren zudem weitaus besser ausgerüstet: Gegen die israelischen und türkischen Drohnen sowie die Raketensysteme aus Russland hatten die Armenier keine Abwehrmöglichkeiten, ihre Verteidigungslinie brach trotz erbitterten Widerstands nach und nach zusammen. Für die Regierungen in Baku und Ankara gab es somit keinen Grund, die erfolgreich verlaufende Offensive zu unterbrechen oder zu beenden.

Feuerpausen vereinbaren und weiter angreifen

Die immer heftiger werdenden Kämpfe und die Opfer unter der Zivilbevölkerung führten dazu, dass die westlichen Regierungen und die UN an die Konfliktparteien appellierten, die Kämpfe zu beenden und sich wieder an den Verhandlungstisch zu setzen. Schließlich schaltete sich US-Präsident Donald Trump ein, um eine Einstellung der Kämpfe zu erreichen. In den USA war Wahlkampf und Trump hoffte, durch die Vermittlung einer Waffenruhe armenische Wählerstimmen bei der bevorstehenden Präsidentschaftswahl zu erhalten. Auf einem Krisengipfel in Washington vereinbarten die Außenminister aus Baku und Jerewan am 25. Oktober eine Feuerpause, die Trump als großartigen diplomatischen Erfolg präsentierte. Aber auch dieses Abkommen wurde nicht eingehalten. Nach dem Scheitern der Initiative der US-Regierung unternahm auch die OSZE einen Versuch, doch auch das in Genf vereinbarte Abkommen blieb folgenlos.

Während der Krieg unvermindert weiterging kam der neue Chefdiplomat Ilham Aliyews ins Spiel: Jeyhun Bayramow war erst im Juli dieses Jahres an die Spitze des Außenministeriums gesetzt worden und verfügte über keine außenpolitischen und diplomatischen Erfahrungen, denn er war seit 2013 als Erziehungsminister tätig gewesen. Seine Mission als neuer Außenminister bestand darin, die Regierungen in Moskau und Washington sowie den OSZE Vermittlern zu versichern, dass sein Land bereit sei, einer Feuerpause einzuwilligen und den Konflikt friedlich zu lösen. Die diplomatischen Aktivitäten waren aber lediglich ein Täuschungsmanöver, denn die aserbaidschanische Armee setzte ihre Angriffe unvermindert fort. Solange keine internationalen Beobachter vor Ort waren, konnte die Einhaltung der Vereinbarungen ohnehin nicht überprüft werden.

Die Tatsache, dass die aserbaidschanische Armee nach den Treffen in Moskau, Washington und Genf weiter vorrückte, deutete darauf hin, dass Aliyew nicht daran dachte, die Vereinbarungen einzuhalten. An einer Einstellung der Kämpfe ist immer die militärisch unterlegene Seite interessiert, die darauf hofft, eine Atempause zu erhalten, um Kräfte sammeln zu können. Für die in große Bedrängnis geratenen armenischen Truppen gab es keinen Grund, die Feuerpause zu missachten. Die Hoffnung der Regierung in Jerewan, dass Moskau oder Washington Druck auf Baku und Ankara ausüben könnten, um ein Ende der aserbaidschanischen Militäroffensive zu erreichen, erfüllte sich nicht. Die Regierungen in Baku und Ankara waren entschlossen, den Krieg solange fortzusetzen, bis sie ihr Mindestziel erreicht hatten: die Rückeroberung der sieben Bezirke um Berg-Karabach und der Stadt Schuschi.

Angriffskrieg mit Beteiligung eines NATO-Staates

Der 44-Tage-Krieg bedeutete für die Armenier das Ende der Illusionen, von denen sie sich nach dem für sie vorteilhaften Waffenstillstandsabkommen von 1994 leiten ließen. Der Status quo von 1994 ließ sich nicht ewig „einfrieren“, die „internationale Staatengemeinschaft“ setzte sich nicht für das Selbstbestimmungsrecht der Völker ein, sondern für die „Unverletzlichkeit der völkerrechtlich anerkannten Staatsgrenzen“. Die politische und militärische Unterstützung Russlands umfasste nicht den Schutz Berg-Karabachs gegen einen Angriff, der Westen tat nichts, um die Armenier aus der türkisch-aserbaidschanischen Zange zu befreien und übte keinen Druck auf die Türkei aus, um die Blockade der Republik Armenien zu beenden, und der armenischen Diaspora gelang es nicht, die „internationale Gemeinschaft“ wenigstens zu einer Verurteilung des aserbaidschanischen Angriffs zu bewegen. Die „Weltöffentlichkeit“ war ohnehin mit anderen Fragen wie der Covid-19-Pandemie beschäftigt und verhielt sich „neutral“, während in Berg-Karabach Städte und Dörfer mit Raketen beschossen wurden.

Die NATO schaute tatenlos zu, wie sich ihr türkisches Mitglied als „Bruderstaat“ Aserbaidschans am Krieg gegen Berg-Karabach beteiligte. Offensichtlich werden der expansionistischen Kriegspolitik der Türkei keine Grenzen gesetzt: sie kann bei der Durchsetzung ihrer „nationalen Interessen“ in anderen Staaten militärisch intervenieren, Teile des Territoriums von Nachbarstaaten besetzen, völkerrechtswidrige Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung verüben und sogar Dschihadisten rekrutieren, sie militärisch ausbilden und als Söldner für ihre Ziele in verschiedenen Regionen einsetzen, wie in Libyen und im Karabach-Krieg. Nicht nur die Aufrüstung der Türkei, sondern auch der Transfer von Rüstungstechnologie, die zum Aufbau einer türkischen Rüstungsindustrie eingesetzt wird, hat dazu beigetragen, dass die türkische Regierung überhaupt in der Lage war, ihre aggressive Politik militärisch umzusetzen.

„Eingefrorener Konflikt“ wird mit Krieg aufgetaut

Während Aserbaidschan auf die uneingeschränkte und umfassende politisch-militärische Unterstützung des „Bruderstaates“ Türkei zählen kann, befinden sich die Republik Armenien und Berg-Karabach in einer isolierten Lage. Im 44-Tage-Krieg wurde deutlich, dass nach dem Waffenstillstandsabkommen von 1994 versäumt wurde, sich militärisch und politisch-diplomatisch auf einen erneuten Krieg vorzubereiten. Dabei hatte Aserbaidschans Führung stets offen davon gesprochen, die Karabach-Frage mit militärischen Mitteln lösen zu wollen.

Kein Konflikt kann ewig „eingefroren“ werden, vor allem dann nicht, wenn eine Konfliktpartei fest entschlossen ist, ihn wieder aufzutauen. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann ein Waffenstillstand gebrochen wird. Das ist dann der Fall, wenn eine Seite sich stark genug fühlt, um die militärische Option zu wählen. Die Wende in der aserbaidschanischen Politik in der Karabach-Frage zeichnete sich ab, als Aliyew seinen Außenminister Elmar Mammadyarov im Juli entließ. Damit wurde ein klares Signal gesendet: Die Zeit der endlosen Verhandlungen war vorbei; nach dem Abkommen von 9. November erklärte Aliyew: „Fast alle Politiker haben mir gesagt, es gebe keine militärische Lösung des Konfliktes, aber wir haben bewiesen, dass es eine gibt.“

Waffenstillstandsabkommen bedeutet keinen Frieden

Das Abkommen vom 9. November, das den Krieg – zumindest vorläufig – beendet hat, war das Ergebnis von Verhandlungen zwischen Putin, Aliyew und Erdogan. Der Krieg, den Aliyew in enger Abstimmung und Zusammenarbeit mit der Türkei begann, konnte nur mit Einverständnis des türkischen Staatschefs beendet werden. Dem armenischen Präsidenten Nikol Paschinjan blieb angesichts der hoffnungslosen militärischen Lage nichts anderes übrig, als das zu unterschreiben, was die drei Staatschefs vereinbart hatten. Putin sagte später in einem Interview, dass eine Fortsetzung des Krieges für die Armenier Selbstmord bedeutet hätte. Mit der Kontrolle über die Stadt Schuschi und den Verbindungsweg durch den Latschin-Korridor wären die Hauptstadt Stepanakert und die übrigen armenisch-gehaltenen Gebiete von der Republik Armenien abgeschnitten worden. Die noch verbliebenen armenischen Einheiten in Berg-Karabach und die dortige Zivilbevölkerung wären dann eingeschlossen worden. Angesichts der offensichtlichen Gleichgültigkeit der „internationalen Gemeinschaft“ drohte ihnen ein Massaker.

Mit dem Abkommen ist die Karabach-Frage jedoch noch längst nicht gelöst, dazu wäre ein Friedensvertrag zwischen den Regierungen in Jerewan und Baku notwendig. Die Regierung von Paschinjan ist wegen des Abkommens vom 9. November heftiger Kritik und dem Vorwurf des Verrats ausgesetzt. Eine „Bewegung zur nationalen Errettung“ fordert den sofortigen Rücktritt der Regierung und Neuwahlen. Angesichts der aufgeheizten und polarisierten Lage im Land sind Verhandlungen über eine endgültige politische Lösung der Karabach-Frage kaum möglich. Wenn das Oppositionsbündnis der „Nationalen Erretter“ die Regierung übernehmen würde, könnte sie an der entstandenen Lage kaum etwas ändern. Die Armenier gehen einer ungewissen Zukunft entgegen: Nach den hohen Verlusten im 44-Tage-Krieg sind sie militärisch geschwächt; sie werden weiterhin der expansionistischen Politik Aserbaidschans und der Türkei ausgesetzt sein und das wird dazu führen, dass die Abhängigkeit von Russland immer mehr die Form eines Protektorats annimmt; die außenpolitischen Optionen werden somit weiterhin sehr begrenzt bleiben.