Trotz der Gefahr weiterer Angriffe sind in den Autonomiegebieten von Nord- und Ostsyrien (AANES) unzählige Menschen auf die Straße gegangen, um gegen den „Terrorstaat Türkei“ zu protestieren. Die Demonstrationen fanden in dutzenden Städten und Gemeinden statt, auch in den selbstverwalteten Gebieten von Aleppo trieb die Wut über die folgenschweren Luftangriffe der türkischen NATO-Armee die Menschen auf die Straße.
Demonstration in Qamişlo
„Dieses Land gehört uns und wir werden es gegen die Eindringlinge verteidigen“, hieß es bei den Protesten vielerorts. Die beiden größten Demonstrationen mit tausenden Teilnehmenden gab es in Hesekê und Qamişlo. In letzterer Metropole versammelte sich eine riesige Menschenmenge vor dem örtlichen Kulturzentrum. Ein Demonstrant verbrannte eine türkische Fahne, lautstark wurde „Nieder mit dem verbrecherischen Besatzerstaat“ skandiert. Der Ko-Vorsitzende des Ortsverbands vom Angehörigenrat der Gefallenen der Rojava-Revolution, Mahsûm Hesen, bezeichnete den „Terror aus der Luft“ in einer Ansprache als „Ausdruck und Fortsetzung der osmanischen Mentalität“, mit der das Regime in Ankara die Wahlen im nächsten Jahr gewinnen wolle.
Mahsûm Hesen
Über mehrere Jahrhunderte war das Osmanische Reich durch Expansionskriege eine große Kolonialmacht, ehe es 1922 endgültig unterging. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan inszeniert sich gerne in der Tradition osmanischer Herrscher und beansprucht frühere Territorien des Osmanischen Reiches. Besonders deutlich werden die Großmachtvisionen in Nordsyrien und im Nordirak. Eine erneute Invasion der Region würde Erdogan aber auf zwei Arten dienen, meinte Hesen. Einerseits würde damit die nationalistische Atmosphäre in der Bevölkerung bestärkt werden. Und andererseits könnte die AKP-Führung damit in der heiß diskutierten Flüchtlingsfrage punkten. „Doch ganz gleich, was noch kommen mag: Für die Völker Kurdistans gehört der Widerstand zur Tradition. Uns ist klar, dass das Erdogan-Regime um seine Existenz ringt und seine letzten Atemzüge macht. Niemand hier wird sein Land und seine Errungenschaften aufgeben. Wir sind entschlossen, zu kämpfen.“
Jugendbewegung in Raqqa marschiert zur russischen Basis
Weitere Demonstrationen fanden unter anderem in Til Temir, Dirbêsiyê, Şedadê, Hol, Tirbespiyê, Çilaxa, Girkê Legê, Til Berak, Til Koçer, Til Hemis, Raqqa und Tabqa statt. In Raqqa gab es zunächst einen größeren Aufzug, an dem sich neben hunderten Bewohnerinnen und Bewohnern der Stadt auch Stammesvertreter und Repräsentant:innen des Zivilrats beteiligten. Aktivist:innen der Jugendbewegung, die ebenfalls vor Ort waren, trennten sich später von dem Marsch und fuhren nach Tell Samin. Dort zogen die Jugendlichen bis vor einen Stützpunkt des russischen Militärs und verurteilten die Freigabe des Luftraums über Nordsyrien für türkische Kampfbomber.
Kriegsversehrte bei einer Demonstration in Minbic
Auch in Deir ez-Zor wurde gegen die türkischen Angriffe auf Nord- und Ostsyrien demonstriert, in der Stadt Minbic beteiligte sich unter anderem Şervan Derwiş, Sprecher des örtlichen Militärrates, an einem Protestmarsch. „Unsere Botschaft an den Aggressor ist klar: Dieses Land gehört uns. Wir werden nicht zulassen, dass die türkischen Besatzer einen Genozid an unserem Volk verüben. Und wir werden unsere Gefallenen rächen“, sagte Derwiş.
Efrîn-Vertriebene in Şehba
Im Kanton Şehba zogen tausende Vertriebene in einer Demonstration von Ehdas bis nach Fafîn. „Efrîn darf sich nicht wiederholen“, sagte Bekir Elo als Ko-Vorsitzender des Exil-Rats des zerschlagenen Kantons. In Aleppo wurde in den kurdischen Vierteln Şêxmeqsûd und Eşrefiyê protestiert.
Junge Frauen in Aleppo
Zivile Infrastruktur gezielt bombardiert
Die türkische Luftwaffe hat in der vergangenen Nacht Dutzende Orte in der AANES sowie im Nordirak bombardiert. Nach bisherigen Angaben sind in Syrien 13 Zivilist:innen und sechs Kämpfer:innen der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) sowie der nach der Besatzung des Kantons Efrîn durch die Türkei 2018 gegründeten Widerstandsgruppe „Befreiungskräfte Efrîns“ (HRE) ums Leben gekommen. Unter den Todesopfern ist auch ein Journalist, der ANHA-Korrespondent Isam Abdullah, der über die Angriffe in Dêrik berichtete. Ein weiterer Journalist, Mihemed Ceradê vom kurdischen Sender Stêrk TV, wurde bei der Berichterstattung in Kobanê verletzt. Die Türkei hat gezielt zivile Infrastruktur bombardiert, so etwa ein Stromwerk, eine Corona-Klinik und ein Weizendepot. Unter den Angriffszielen waren auch Stützpunkte der syrischen Armee, es sollen über zwanzig Soldaten getötet worden sein.