Kommentar: Zangenangriff auf Rojava
Während die europäischen Medien von einem kurdisch-arabischen Konflikt sprechen, spielt sich ein Zangenangriff auf Rojava ab. Solidarität ist dringend geboten.
Während die europäischen Medien von einem kurdisch-arabischen Konflikt sprechen, spielt sich ein Zangenangriff auf Rojava ab. Solidarität ist dringend geboten.
Zur Stärkung der Sicherheit in Nordostsyrien begann am Abend des 27. August eine Operation der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD). Die Operation richtet sich gegen IS-Zellen, Drogenhandel, Korruption und Mafiastrukturen in der Region und dauert weiter an. Mehrere Kämpfer:innen der QSD sind bereits bei der Operation gefallen, und es kommt immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen. In den europäischen Medien werden diese Auseinandersetzungen als kurdisch-arabischer Konflikt dargestellt. Dass dies eine Fehleinschätzung ist, zeigt schon ein Blick in die Liste der gefallenen QSD-Kämpfer:innen, bei fast allen handelt es sich um Kämpfer:innen aus Deir ez-Zor, Tabqa und anderen Orten mit vorwiegend arabischer Bevölkerung. Die meisten Kämpfer:innen gehören arabischen Mitgliedsgruppen der QSD wie dem Verband „Brigade des demokratischen Nordens“ (Liwa al-Shamal al-Demokrati) an.
Angreifer werden vom Assad-Regime unterstützt
Auch wenn man sich die Kämpfer der Gegenseite ansieht, wird deutlicher, was hinter dem eskalierenden Konflikt steht. Es handelt sich um bewaffnete Gruppen – immer wieder auch mit Verbindungen zum „Islamischen Staat“ (IS) – die aus den Gebieten westlich des Euphrat in die Region übergesetzt hatten. Dies kann nur mit Billigung des Assad-Regimes geschehen sein, das gleichzeitig die Falschbehauptung eines angeblichen kurdisch-arabischen Konflikts verbreitet. So soll die Region in ihren Grundfesten erschüttert und die Selbstverwaltung ausgeschaltet werden. Hinter der aktuellen Aggression des Regimes mögen mehrere Faktoren stehen. So nehmen sich auch im Kernland Syriens Menschen ein Beispiel am Modell Rojava und protestieren für Selbstverwaltung und gegen das Regime. Gerade sind erneut die Proteste angesichts der Verteuerung in as-Suwweida aufgeflammt. Dort fordert insbesondere die drusische Bevölkerung Selbstverwaltung und Autonomie. Delegationen trafen sich immer wieder mit der Selbstverwaltung. Der Angriff auf Deir ez-Zor könnte somit als Teil einer Vorwärtsverteidigung der Diktatur verstanden werden. Sicher ist, dass ein solcher Angriff nicht ohne Unterstützung und Billigung Russlands stattfinden kann. Russland geht es darum, seinen Einfluss insbesondere auf die Ölfelder in Nord- und Ostsyrien auszudehnen und die Selbstverwaltung auszuschalten.
NATO-Staat Türkei greift von Norden an
In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, dass der türkische Staat die Gelegenheit nutzte und einen Angriff auf Minbic startete. Wir können also von einem Zangenangriff auf Rojava sprechen. Minbic befindet sich in einer äußerst wichtigen strategischen Position. Die Stadt war bereits zu IS-Zeiten ein zentraler Schleusungspunkt für Dschihadisten und Logistik aus der Türkei nach Syrien gewesen. Die Befreiung der Stadt traf die imperialen Ambitionen der Türkei schwer, und das AKP-Regime setzte von Anfang an alles daran, die Stadt zu besetzen. Wenn Minbic besetzt würde, dann könnte die Türkei die Hegemonie über ganz Nordwestsyrien erlangen. Auch Kobanê könnte so in die Zange genommen werden. Als nun der Angriff auf Deir ez-Zor im Südosten startete, nutzte der türkische Staat die Situation, möglicherweise auch auf der Grundlage von vorherigen Absprachen, entweder direkt mit dem Regime oder mit Russland, und begann mit seinen Söldnergruppen, ähnlich wie das Regime im Südosten, einen Angriff auf die Stadt und ihre Dörfer. Auch wenn der Militärrat von Minbic den bisherigen Angriff weitgehend zurückschlagen konnte, geschah dies nicht ohne Verluste unter der Zivilbevölkerung. So wurden in der Nacht zum 1. September vier Kinder bzw. Minderjährige bei Angriffen der Söldner getötet. Die Angriffe scheinen auch noch nicht ausgestanden zu sein. Der türkische Staat zieht große Mengen an Kräften an der Minbic-Front zusammen. Gleichzeitig droht ein Angriff auf die assyrischen Dörfer um Ain Issa und Til Temir. So wurde am Montagmorgen bereits ein erster Bodenangriff auf Ain Issa abgewehrt.
Russischer Imperialismus stützt Zangenangriff
Auf die russische Unterstützung des Angriffs deuten mehrere Faktoren hin. So besuchte der ehemalige türkische Geheimdienstchef und nun Außenminister Hakan Fidan erst vor wenigen Tagen Moskau. Daraufhin erklärte der russische Außenminister Lawrow, man solle zur Philosophie des „Adana-Abkommens“ zurückkommen. Beim Adana-Abkommen handelt es sich um ein Abkommen, das 1998 zwischen den Leitern des syrischen politischen Sicherheitsapparats und dem türkischen Geheimdienst unterzeichnet wurde und insbesondere auf die Vernichtung der kurdischen Freiheitsbewegung abzielte und grenzüberschreitende Operationen legitimierte.
Permanente Spezialkriegsführung gegen Rojava
Doch nicht nur militärische Angriffe sind Teil dieser Politik. Sie mögen die offensichtlichsten Formen der Angriffe sein, im Untergrund führen die Regionalmächte aber einen permanenten Krieg gegen die Selbstverwaltung. Drogen werden in die Region geschmuggelt, Menschen werden abhängig gemacht und als Spitzel und Agenten eingesetzt, und es werden immer neue bewaffnete Terrorzellen aufgebaut, die verhindern sollen, dass Menschen die Selbstverwaltung unterstützen. Gerade in den Dörfern um Deir ez-Zor herrschte immer wieder Angst und Schrecken, sich trotz großer Sympathie in die Selbstverwaltung einzubringen, da man so in das Visier der Zellen geriet und ermordet werden konnte. Durch Angriffe unter falscher Flagge wird versucht, Kurd:innen und Araber:innen gegeneinander in Stellung zu bringen. Nicht umsonst warnte der Militärrat von Deir ez-Zor, dass Söldnergruppen teilweise in Uniformen des Militärrats agierten und die Bevölkerung vorsichtig sein sollte. Genau gegen diese Strukturen, nicht gegen die Bevölkerung, läuft die Operation der QSD.
Erdoğan und Assad – Hand in Hand gegen Demokratie und Selbstverwaltung
Die Türkei und das Assad-Regime agieren unisono und zielen darauf ab, die selbstverwalteten Gebiete zu zerschlagen und die Region nach ihren rassistischen Konzepten umzugestalten. Was das für die Region bedeutet, zeigt für die türkische Seite Efrîn, wo der kurdische Bevölkerungsanteil um 70 Prozent nach türkischer Besatzung aufgrund von rassistischem Terror und Vertreibung gesunken ist, und ein Blick in die Geschichte der antikurdischen Politik des Regimes. Auch das syrische Regime betrieb in Nord- und Ostsyrien eine gezielte Vertreibungs- und Siedlungspolitik. Kurd:innen wurden die Pässe entzogen, die Dörfer geraubt und arabisiert. Dennoch hat die Selbstverwaltung von Rojava es geschafft, ein multiethnisches, multikulturelles Projekt des Zusammenlebens und der Solidarität jenseits ethnischer und kultureller Grenzen aufzubauen. Dieses Projekt bedroht die monistischen Nationalstaaten allein durch seine Existenz.
Koalition trägt Mitverantwortung
Angesichts dieser Tatsache wirkt es schon fast absurd, wenn die US-geführte Koalition „beide Seiten“ zur Einstellung der Kampfhandlungen aufruft, denn es handelt sich nicht um zwei gleiche Konfliktparteien, sondern um den Kampf gegen den IS und andere dschihadistische Söldnergruppen, die versuchen, die Region ins Chaos zu stürzen und sturmreif zu schießen.
Gleichzeitig spielt auch die Koalition eine gewisse Rolle in dem Konflikt. Sie hat immer versucht, ein Gegengewicht zur Selbstverwaltung in den Stämmen aufzubauen, um ihre eigenen Interessen in der Region durchzusetzen. Da die Selbstverwaltung allen Widerständen zum Trotz weder dem russischen noch dem US-geführten Imperialismus nachgibt und ein „Modell des dritten Weges“ geht, versucht auch die Koalition, wenn auch auf „sanfterem Wege“, die Selbstverwaltung zu unterminieren. Mit dieser Politik auf der Basis der Stämme unterminiert die Koalition aber andererseits auch ihr erklärtes Ziel, die Zerschlagung des IS. Denn durch diese Politik werden dem IS und anderen Terrorgruppen neue Spielräume eröffnet.
Der Kampf der QSD in Deir ez-Zor ist die konsequente Fortsetzung des antifaschistischen Kampfes gegen den IS. Er dient nicht der Unterwerfung, sondern der Befreiung der Menschen der Region und der Stärkung der Demokratie und Selbstorganisierung.