„Die Türkei muss von diesem Terrorregime befreit werden“

Der YPG-Sprecher Nûrî Mehmûd beschreibt die Realität des türkischen Staates mit den Worten: „Eine mafiöse Clique hat einen Staat von strategischer Bedeutung in ihre Gewalt gebracht. Die Türkei muss von diesem Mafia- und Terrorregime befreit werden.“

Der Jahreswechsel findet in Rojava unter dem Eindruck schwerer türkischer Angriffe statt. Das gesamte Jahr war von heftigen Angriffen auf die Revolution geprägt. Sowohl das Regime in Damaskus als auch das in Ankara versuchten alles, um die Region durch Söldnergruppen und islamistische Milizen wie dem IS zu destabilisieren. Der Sprecher der Volksverteidigungseinheiten (YPG), Nûrî Mehmûd, blickte im ANF-Interview auf das Jahr 2023 zurück. Angesichts der aktuellen Lage erklärte er: „Wir haben den IS besiegt. Wir werden auch diese aktuellen Angriffe scheitern lassen.“


Ein weiteres Jahr der Revolution liegt hinter uns. Wie haben sich die Verteidigungskräfte Nord- und Ostsyriens angesichts der Entwicklungen in der Region bewährt?

Rojava und Nord- und Ostsyrien konnten mit dem Frühling der Völker der Bevölkerung Syriens, den Völkern des Nahen Ostens und den Völkern der Welt ein neues Projekt präsentieren. Die YPG und die YPJ haben unter dem Dach der Demokratische Kräfte Syriens (QSD) die Aufgabe übernommen, dieses Projekt zu verteidigen. Wir waren in der Lage, dieses demokratische Projekt gegen die Kräfte des Status quo, die faschistische AKP/MHP-Regierung den IS, die Muslimbruderschaft, die al-Nusra und andere Gruppen, mit denen sich der türkische Staat verbündet hat, zu schützen. Unser Volk hat große Opfer gebracht, denn es herrscht ein umfassendes politisches, gesellschaftliches und wirtschaftliches Embargo gegen Nord- und Ostsyrien. Um die Errungenschaft der Revolution, das Projekt der demokratischen Nation, zu zerstören, haben die Einrichtungen des Spezialkriegs auf höchster Ebene Anti-Propaganda betrieben. Als Demokratische Kräfte Syriens haben wir seit Beginn der Revolution dieses auf der gesellschaftlichen Kultur und Moral basierende Projekt verteidigt. Das Projekt der demokratischen Nation bedeutet den Schutz des Willens und der Würde des Volkes und die Demokratisierung Syriens. Wir haben alle geheimdienstlichen, militärischen und politischen Angriffe des türkischen Staates und der Kräfte, die den Status quo ante wiederherstellen wollen, abgewehrt. Gleichzeitig haben wir ein demokratisches Projekt für alle Menschen in Syrien vorgestellt. Wir haben alle Angriffe und Komplotte, durch die die Erfolge in Nord- und Ostsyrien hätten zunichte gemacht werden können, abgewehrt. Dadurch haben wir große Erfolge erzielt.

Als Verteidigungskräfte betonen Sie immer wieder, dass Sie auch für die Verteidigung der Völker Syriens verantwortlich seien. Hatten Sie in diesem Jahr Kontakt zu den Völkern außerhalb der Selbstverwaltungsregionen?

Unsere Region stand immer im Dialog mit dem den Völkern Syriens. Ob in den Gebieten im Norden und Osten Syriens, die von der türkischen Besatzungsmacht besetzt sind, oder in den Gebieten, die von der Regierung in Damaskus kontrolliert werden – es gab immer einen Dialog mit der Bevölkerung im ganzen Land. Wenn wir zurückblicken, hat die Bevölkerung von Suwaida [im Südwesten von Syrien] in diesem Jahr deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie das Modell der Selbstverwaltung als das für sie am besten geeignete Modell ansieht. Mit Ausnahme der Gebiete im Norden und Osten Syriens gibt es nirgends in Syrien ein System, in dem sich die Menschen frei äußern und in demokratisch organisieren können. Weder in den Regionen unter der Kontrolle von Damaskus noch in den vom türkischen Besatzungsstaat besetzten Gebieten gibt es ein solches System. Es gibt keinen demokratischen Raum, geschweige denn ein solches System. Aus diesem Grund haben die Menschen nicht die Freiheit, ihre Unterstützung für die Selbstverwaltung zum Ausdruck zu bringen und ihre Unterstützung offen zu äußern.

Offensichtlich ist das keine neue Situation. Die Staaten, welche den Status quo erhalten wollen, insbesondere die Astana-Formation, arbeiten weiterhin offen gegen das System der Demokratischen Selbstverwaltung in der Region Nord- und Ostsyrien. Sie betrachten es als ein Hindernis gegen sich selbst. Diese Kräfte stützen sich vor allem auf den IS, die Muslimbruderschaft, Jabhat al-Nusra und ähnliche Gruppierungen, die sie gegen Nord- und Ostsyrien einsetzen. Ihr einziges Ziel ist es, die Struktur, die allen Völkern ein Zusammenleben in einem freien und demokratischen System ermöglicht, zu beseitigen.

Vor allem im Jahr 2023 hat sich gezeigt, dass einige Staaten nicht wie Staaten handeln. Zu diesen Staaten gehört der türkische Staat. Er agiert offen als mafiöser und terroristischer Staat. Der Außenminister Hakan Fidan hat enge Beziehungen zu den Taliban in Afghanistan und anderen Staaten, in denen es eine intensive Drogenproduktion und -handel gibt. Zum Zwecke des Drogenhandels wird insbesondere die Grenze zu Nordkurdistan genutzt. Es gibt einen regen Drogenhandel sowohl innerhalb der Türkei als auch nach Syrien und in europäische Staaten. Diese Strukturen sollen in Syrien und Nord- und Ostsyrien noch stärker entwickelt werden.

Sie haben in diesem Jahr sehr intensiv in Deir ez-Zor interveniert. Mit welchen Ergebnissen?

Die Angriffe auf Deir ez-Zor waren sehr gefährlich. Man wollte das kurdische und das arabische Volk gegeneinander ausspielen. Auf der Grundlage einer solchen Fehde sollte die ganze Region destabilisiert und das Projekt der demokratischen Nation zerstört werden. Es hat aber nicht wie gewünscht funktioniert. In Deir ez-Zor führte die arabische Bevölkerung den Widerstand gegen diese Versuche an. Sie hat sich sowohl gegen diejenigen gestellt, die ihre Pflichten innerhalb des Systems missbrauchten, als auch gegen mafiöse Gruppierungen Stellung bezogen. Genauso hat es Haltung gegen die von der Regierung in Damaskus unterstützten Söldnergruppen gezeigt. Die Bevölkerung hat zusammen mit dem QSD den IS aus seiner Mitte getilgt. Sie hat sich das Projekt der demokratischen Nation, das alle Völker zusammenführt, zu eigen gemacht. Mit der Einheit der Bevölkerung und unserer Verteidigungskräfte wurde dieser vom türkischen Staat initiierte und von der Regierung in Damaskus mitgetragene Plan innerhalb von drei Wochen vereitelt. Mit diesem Widerstand ist einmal mehr deutlich geworden, dass die Bevölkerung unser Projekt nachdrücklich unterstützt. Die Menschen wollen, dass dieses Projekt die Grundlage für die Zukunft Syriens bildet. Trotz des wirtschaftlichen, politischen und ökonomischen Embargos hat die Gesellschaft von Nord- und Ostsyrien all ihre Möglichkeiten zur Unterstützung unserer Kräfte mobilisiert.

In diesem Jahr waren die Gebiete im Nordosten Syriens schweren Angriffen ausgesetzt. Inwieweit waren Sie als Verteidigungskräfte in der Lage, auf diese Angriffe zu reagieren?

Der türkische Staat ist bekanntlich Mitglied der NATO und wird von ihr unterstützt. Er setzt ihre Hochtechnologie und seine Luftwaffe ein. Trotzdem ist er nicht in der Lage, etwas gegen unsere Verteidigungskräfte zu erreichen. Der türkische Außenminister Hakan Fidan hat offen davon gesprochen, dass man Kriegsverbrechen begehen werde, das heißt, dass man die Infrastruktur angreifen würde. Genau das geschieht jetzt auch. Die türkische Armee nimmt Druckereien, Getreidelager, Kraftwerke, Fabriken und zivile Versorgungseinrichtungen ins Visier. Sie richtet sich direkt gegen die Menschen und damit gegen die Menschlichkeit. Die Europäische Union und die NATO müssen das endlich wahrnehmen. Es widerspricht dem Kriegsvölkerrecht und den europäischen Kriterien. Eine mafiöse Clique, eine Verbrecherbande, hat sich heute eines strategischen Staates bemächtigt und nutzt ihn im Rahmen dieser Mentalität. In diesem Sinne müssen die Europäische Union, die NATO und vor allem die Völker der Türkei dagegen vorgehen. Man muss begreifen, dass die Türkei heute von einer mafiösen Bande regiert wird. Die Türkei muss vor diesem Mafia- und Terrorregime gerettet werden.

Ihr Kampf gegen IS wurde auch in diesem Jahr fortgesetzt. Sie sind erfolgreich gegen IS-Zellen vorgegangen. Wie ist der Stand des Kampfes gegen den IS?

Unser Krieg gegen den IS dauert seit dem Beginn der Revolution an. Wie bekannt ist, befinden sich Tausende von IS-Mitgliedern in unseren Gefängnissen. Etwa 50.000 Angehörige von IS-Mitgliedern befinden sich im Camp Hol. All das stellt eine große Gefahr für die Region dar. Darüber bieten die vom türkischen Besatzungsstaat besetzten Gebiete ein Hinterland für diese Gruppen. In den Gebieten unter Kontrolle der Regierung in Damaskus, wie z.B. Tadmur, gibt es ebenfalls ein Hinterland für solche Gruppierungen. Dort hat der IS ein Rückzugsgebiet. Die Existenz dieser Gebiete, die Existenz der Gefängnisse und Lager stellt bereits eine große Gefahr dar. Die ungelöste Frage der Einrichtung eines Gerichts für die Mitglieder dieser Gruppen in den Gefängnissen, der Schaffung eines Rehabilitationsprogramms für diese Menschen in den Lagern und die Existenz dieser Regionen, die als Hinterland fungieren und Logistik- und Transiträume für den IS schaffen, erhöhen die Gefahr noch mehr. Solange diese Probleme nicht gelöst sind, wird der IS immer Zellen in diesen Regionen haben. Die internationale Koalition hat diese Situation klar erkannt. Die internationale Gemeinschaft muss neue Entscheidungen gegen den IS treffen.

Es gibt mehr als 10.000 IS-Mitglieder in unseren Gefängnissen, wenn sie freigelassen werden, können sie dem IS zehnmal mehr Mitglieder zuführen. Außerdem leben Zehntausende Kinder in Camp Hol. Diese Kinder werden von den Angehörigen im Sinne des IS erzogen. Sie alle wachsen als potenzielle IS-Mitglieder auf. Es gibt hier keine internationalen Standards entsprechenden Maßnahmen. Außerdem gibt es Gruppen, die sich in die vom türkischen Staat besetzten Gebieten zurückziehen. Der türkische Staat hält mit Unterstützung der EU und der NATO den IS in diesen Regionen am Leben.

Die IS-Mitglieder stellen nicht nur für uns, sondern auch für die Welt eine Gefahr dar. In diesem Sinne geht unser Kampf zur vollständigen Vernichtung des IS mit höchster Intensität weiter. Deshalb ist es auch dem IS bis heute nicht gelungen, sich in unseren Gebieten stark zu organisieren. Er kann nur Zellen bilden. Alle Versuche, Verwirrung zu stiften, waren vergeblich. Es gab Versuche, gegen die Gefängnisse vorzugehen, das ist gescheitert, aber der IS hat nicht aufgehört, er macht weiter. Dieses Weiterbestehen des IS stellt eine große Gefahr dar. Diese Situation gibt seinen Anhängern die Hoffnung, dass er sich neu formieren kann. Die Gefahr besteht von Europa bis Asien und bis in die USA. Der IS hat immer noch das Potenzial, sich neu zu formieren. In diesem Sinne muss ein Ansatz nach den Standards der Welt und der internationalen Koalition entwickelt und gegenüber den IS-Mitgliedern in den Gefängnissen umgesetzt werden. Auch gegenüber den mehr als 50.000 Familienangehörigen von IS-Mitgliedern sollte ein nach internationalem Recht ausgerichtetes Vorgehen gewählt werden. Diese Menschen müssen wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden, sie müssen resozialisiert werden. Ebenso ist es notwendig, völkerrechtlich gegen die Staaten vorzugehen, die den IS unterstützen.

Was ist ihr Ziel als Verteidigungskräfte im Angesicht des bevorstehenden Jahreswechsels?

Zweifellos gibt es heute in Nord- und Ostsyrien ein gesellschaftliches Modell. Hauptaufgabe unserer Kräfte ist es, die Errungenschaften und Ziele der Gesellschaft zu schützen. Wir werden unsere Aufgabe zur Verteidigung der Errungenschaften der Revolution und der Gesellschaft erfüllen. Wir werden unsere Verteidigungspflichten gegen alle faschistischen und rassistischen Angriffe erfüllen. Unser Volk sollte sich in dieser Hinsicht keine Sorgen machen. Wir werden dem Weg unserer Gefallenen weiter folgen. Von unserem ersten Gefallenen bis heute sind wir ihrem Andenken treu geblieben. In diesem Sinne muss auch unser Volk seine Organisierung stärken und seine Institutionen ausbauen und festigen. Nur eine starke Organisierung kann zum Erfolg gegen alle Arten von Angriffen führen. Die Treue zum Leben der Gefallenen, die Treue zu den Zielen der Revolution, die Treue zum System der demokratischen Nation wird uns zum Erfolg führen. Wir haben den IS besiegt und wir werden die gegenwärtigen Angriffe besiegen. Der Sieg wird unser sein.