Nord- und Ostsyrien: Selbstverteidigung ist das Gebot der Stunde

Unbeachtet vom Westen verübt die Türkei Kriegsverbrechen in Nord- und Ostsyrien. Die Selbstverwaltung verurteilt diese Ignoranz und fordert eine klare Position von UNO und internationaler Anti-IS-Koalition, aber auch von Damaskus und Moskau.

Jenseits jeglicher Aufmerksamkeit setzt die Türkei ihren Staatsterror gegen Nord- und Ostsyrien fort. Ermutigt durch das Schweigen der internationalen Gemeinschaft, eskaliert Ankara seit Tagen wieder seinen ohnehin seit Jahren in mal niederer und mal höherer Intensität geführten Krieg gegen die Region, die auch als Rojava bekannt ist. Die Demokratische Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens forderte die Staatengemeinschaft deshalb abermals auf, diese Praxis als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und als Kriegsverbrechen einzustufen und die Verantwortlichen entsprechend zu ahnden. Auf einer Pressekonferenz des Exekutivrats der Selbstverwaltung wurden am Montag scharfe Töne formuliert. Die Erklärung wurde vom Ko-Vorsitzenden des Gremiums, Hisên Osman, verlesen.

Türkei, eine Täternation

„Selbst zu einer Zeit, in der weltweit das neue Jahr mit Hoffnung und Friedenswünschen begrüßt wird, scheut die Türkei sich nicht davor, in der ungebrochenen Tradition ihres Gemeinwesens als Täternation zu stehen. Obwohl ihre Geschichte nicht arm an Gemetzeln und Massakern jeder Größenordnung ist, macht sie auch dieser Tage ihrer genozidären Mentalität alle Ehre.

Seit nunmehr zehn Jahren verfolgt die Türkei ihre Vernichtungsabsichten in unseren Regionen und stiftet Chaos. Allein die letzten drei Monate sind gekennzeichnet vom türkischen Staatsterror: permanente Angriffe auf Wohngebiete, Infrastruktur, Ölfelder und kommunale Dienstleistungseinrichtungen. Es sind jene Einrichtungen, die bereits im Oktober von der Türkei bombardiert wurden, und dennoch versuchen, öffentliche Dienstleistungen für die Bevölkerung zu erbringen und die durch Krieg und Embargo verursachte Belastung der Menschen zu lindern.

Laut Behörden der Selbstverwaltung wurden bei den bisherigen Angriffen in Nord- und Ostsyrien sechs Menschen getötet und zwölf verletzt, elf von ihnen allein am Montag. 

Ein weiteres wesentliches Element dieses Krieges ist der Wunsch der Türkei, Rache zu üben an unserem Volk für den Widerstand unserer Kämpferinnen und Kämpfer gegen die Terrororganisation ‚Islamischer Staat‘ (IS), sowie die Motivation, den Söldnern dieser Terrorbanden ein Reorganisierungsfeld zu öffnen. Der türkische Staat will unser demokratisches Projekt zerschlagen, das die Gemeinschaften unserer Region unter unzähligen Opfern aufgebaut haben, um die Einheit der syrischen Nation zu schützen und für Gerechtigkeit und Frieden zu sorgen. Doch trotz dieser Bemühungen, den Willen des Volkes zu brechen, den IS wiederzubeleben und den Kampf gegen den Terror zu torpedieren, stehen die Demokratische Selbstverwaltung und ihre Institutionen weiterhin im Dienst ihrer Bürgerinnen und Bürger.

Angriffe verursachen humanitäres Leid und schwere wirtschaftliche Folgen

Wir, die Demokratische Selbstverwaltung in der Region Nord- und Ostsyrien, verurteilen die Angriffe des türkischen Staates auf unsere Gebiete, unsere Bevölkerung und unsere Infrastruktur. Diese Angriffe verursachen humanitäres Leid und haben auch schwere wirtschaftliche Folgen. Darüber hinaus bedrohen sie die Bemühungen zur Friedenssicherung und den Kampf gegen den Terrorismus. Wir fordern daher die Vereinten Nationen sowie alle einschlägigen Menschenrechtsgremien und -organisationen auf, eine klare Position gegen diese Angriffe zu beziehen, die den Frieden und die Sicherheit von Millionen von Menschen bedrohen, und ihren politischen, moralischen und humanitären Pflichten gegenüber der Bevölkerung Nord- und Ostsyriens nachzukommen.

Wir fordern die Internationale Anti-IS-Koalition auf, eine klare und transparente Haltung gegen diese Angriffe einzunehmen. Diese Angriffe müssen so schnell wie möglich aufhören. Sie gefährden die Errungenschaften unseres gemeinsamen Kampfes gegen den Terrorismus, wirken sich negativ auf die allgemeine Lage aus und bedrohen Frieden und Sicherheit. Wir fordern auch Russland auf, eindeutig Stellung gegen diesen Konflikt zu beziehen. Die Bedrohung betrifft nicht nur die Gebiete der Selbstverwaltung, sondern alle Regionen Syriens.

Auch appellieren wir an die Regierung in Damaskus und Parteien der Arabischen Republik Syriens, sich für den Schutz der Einheit unseres Landes und gegen die Angriffe auf Nord- und Ostsyrien einzusetzen. Es macht fassungslos, dass diese Perspektive keinen Zuspruch findet. Schließlich versorgen wir mit unserer Infrastruktur und unseren Einrichtungen das syrische Volk und die Attacken der Türkei stellen eine Bedrohung für die Souveränität des gesamten Landes dar.

Wir drängen dazu, sich auf der Grundlage legitimer Selbstverteidigung zu schützen

Schließlich rufen wir unser Volk und alle Komponenten auf, in diesen schwierigen Zeiten zusammenzuhalten, wachsam gegen Chaos, Unruhen und Angriffe zu sein und das Projekt der demokratischen Nation zu verteidigen. Wir drängen dazu, sich auf der Grundlage legitimer Selbstverteidigung zu schützen. Als Demokratische Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens werden wir alles Nötige tun, um unsere Gebiete zu verteidigen, die Angriffe des türkischen Staates abzuwehren und alle seine Vernichtungspläne zu vereiteln. Wir bleiben unseren Idealen verbunden, unsere Völker zu vereinen, das Projekt der demokratischen Nation zu verwirklichen, ein vielfältiges Syrien aufzubauen und unseren Sieg zu festigen. Wir versprechen unseren Bürgerinnen und Bürgern, dass wir unsere Errungenschaften schützen werden. Wir werden unseren Kampf fortsetzen, bis wir eine freie Gesellschaft aufgebaut haben.“

„Vergeltungsangriffe“ unter Hinweis auf UN-Charta

Die Türkei hat am Samstagabend eine neue Luftangriffswelle gegen die Demokratische Selbstverwaltung der Region Nord- und Ostsyrien gestartet. Zunächst wurden Energieversorgungseinrichtungen in Tirbespiyê und Dêrik bombardiert, vielerorts brach die Stromversorgung zusammen. Inzwischen sind auch Qamişlo, Amûdê, das nicht vollständig besetzte Städtchen Şêrawa bei Efrîn sowie Kobanê im Fokus der Attacken. Laut Ankara seien die Angriffe als „Vergeltung“ für den Tod mehrerer Soldaten gedacht, die bei „grenzüberschreitenden Operationen“ der türkischen Armee im Irak von der kurdischen Guerilla getötet wurden. Die Türkei rechtfertigt sich bei ihrem Staatsterror in Nord- und Ostsyrien mit Verweis auf Artikel 51 der UN-Charta, in der das Selbstverteidigungsrecht eines Landes geregelt ist. Im Völkerrecht gibt es aber kein Recht auf Vergeltung. Internationale Reaktionen bleiben dennoch wie gewohnt aus. Ankara hat freie Hand für Kriegsverbrechen gegen Kurdinnen und Kurden. Luftangriffe flog die türkische Armee in den letzten Tagen auch in der Kurdistan-Region des Iraks.