„Wir werden jeden Angriff auf Kurdistan als einen Angriff auf Rojava betrachten“, erklärt die Ko-Vorsitzende der nordsyrischen Bewegung für ein demokratische Gesellschaft (TEV-DEM), Rûken Ehmed. „Der türkische Staat sucht nach Gelegenheiten für neue Angriffe. Die PDK will sich an diesen Angriffen beteiligen. Als Volk und als Bewegung werden wir diese Angriffe niemals akzeptieren.“
Im ANF-Interview analysiert Ehmed die aktuelle Lage in Kurdistan und insbesondere die Rolle der mit dem türkischen Staat kollaborierenden südkurdischen PDK und ihres Ablegers ENKS („Kurdischer Nationalrat“) in Rojava. Außerdem nimmt sie Stellung zur Situation von Abdullah Öcalan.
Seit einem Jahr gibt es keinen Kontakt mehr zu Abdullah Öcalan auf Imrali. Was machen Sie als TEV-DEM dagegen und was ist jetzt nötig zu tun?
Tatsächlich verliefen die Verhandlungen mit Rêber Apo [Abdullah Öcalan] seit 2015 nicht wie gewünscht. Man kann sagen, dass die Verhandlungen vollkommen abgebrochen wurden. Das letzte Mal, dass er nach draußen telefonieren konnte, war vor einem Jahr ein Gespräch mit seinem Bruder. Aber auch das wurde unterbrochen. Es soll verhindert werden, dass die Ideen von Rêber Apo nach außen dringen. Er ist seit 23 Jahren inhaftiert und hat nicht einmal die Rechte eines Gefangenen. Das ist ein großes Unrecht. Die verantwortlichen Institutionen kommen ihrer Pflicht nicht nach, das gilt insbesondere für das Komitee des Europarates zur Verhütung von Folter (CPT).
Als TEV-DEM verfolgen wir diese Situation genau und kämpfen in diesem Sinne. Wir nehmen an der Offensive „Zeit für Freiheit“ für die Freiheit von Abdullah Öcalan teil. Der Menschenrechtsausschuss von TEV-DEM führte Kundgebungen und Seminare durch und gab Erklärungen zum Thema Isolation ab. Das CPT muss reagieren. Wir setzen unsere Aktionen gegen diese Verweigerungshaltung gegenüber Verhandlungen mit Rêber Apo fort und müssen unsere Aktivitäten ausweiten. Das Ziel des diesjährigen Newroz war es, die körperliche Freiheit von Rêber Apo durchzusetzen. Das ist unser Ziel. Wir kämpfen und wir setzen unsere Aktionen fort.
„Der türkische Staat bereitet Krieg vor“
In den letzten Tagen war immer wieder zu hören, der türkische Staat bereite eine neue umfassende Invasion vor. Was haben Sie für Informationen zu diesem Thema?
Der türkische Staat hat seine Angriffe niemals eingestellt. Seit Jahren hat er bei seinen Angriffen auf die Berge Kurdistans, die Medya-Verteidigungsgebiete, Süd- und Westkurdistan nie innegehalten. Der türkische Staat versucht, aus dem Krieg in der Ukraine Profit zu schlagen. Er bereitet sich dementsprechend vor. Sobald er eine Lücke sieht, wird er zuschlagen. Wir haben einige Informationen dazu.
Wie sind Embargo, IS-Angriffe und Angriffe des türkischen Staates zu betrachten? Was steckt dahinter und wie kann diese Entwicklung gestoppt werden?
Die türkischen Angriffe auf die Region sind in den meisten Fällen gescheitert und haben kein Ergebnis gebracht. Aber die Angriffe auf das Volk dauern fort. Auf der einen Seite gibt es das bestehende Embargo gegen die Region, auf der einen Seite gibt es viele Angriffe von Söldnern des türkischen Staats. Der türkische Staat, dem nichts mehr übrig bleibt, tut dies, um sein Leben zu verlängern. Durch diese Angriffe soll verhindert werden, dass Stabilität in der Region und der Gesellschaft entsteht. Es gibt Vorbereitungen in der Gesellschaft gegen diese Angriffe. Das, was die Angriffe stoppen wird, ist die Organisierung der Bevölkerung und das Vertrauen auf die eigene Kraft. Dafür haben wir Pläne. Wir arbeiten auf gesellschaftlicher Ebene daran, die Pläne des türkischen Staates zu vereiteln.
Der ENKS und die PDK versuchen, Propaganda zu verbreiten und die Menschen einzuschüchtern. Wie ist die Arbeitsteilung zwischen diesen Organisationen?
Organisationen wie der ENKS und die PDK haben der Gesellschaft nichts zu geben. Der ENKS hat nicht die Kraft, in Nord- und Ostsyrien irgendetwas zu bewirken und die Gesellschaft zu organisieren. Er verbreitet den Wünschen der Feinde des kurdischen Volkes entsprechend Propaganda unter der Bevölkerung. Dabei geht es darum, die Gesellschaft zu neutralisieren und ihr den Willen zu nehmen. Unserer Ansicht nach folgt er Befehlen von außen. Denn der ENKS hat keine Wurzeln und kein Medium, um diese Politik allein zu betreiben.
Die Kollaboration von PDK und ENKS mit dem türkischen Staat befindet sich heute auf höchstem Niveau. Unser Volk sollte das wissen. Wenn es die Wahrheit über die PDK und ENKS kennt, wird ihre Propaganda wirkungslos sein. Für Efrîn verbreitet der ENKS Propaganda und behauptet: „Efrîn ist jetzt das Paradies“. In Efrîn werden täglich Frauen vergewaltigt und entführt. Kinder werden von Söldnern in Schulen erschossen. Die Flagge des türkischen Staates wird in Efrîn vor den Schulen aufgehängt, und die Bäume von Efrîn werden gefällt. Wo ist denn hier das „Paradies“? Auf welcher Grundlage macht der ENKS seine Propaganda? Der ENKS kann mit seiner Propaganda sein Ziel nicht mehr erreichen. Die Gesellschaft glaubt ihm nicht mehr. Denn ENKS und PDK haben nichts für die Gesellschaft getan. Wenn sich unsere Gesellschaft stark organisiert, dann wird die Propaganda von ENKS und PDK vollkommen scheitern.
„Eine Inspirationsquelle für den Nationalkongress“
Was werden Sie für eine Haltung bei einem umfassenden Angriff auf Südkurdistan oder die Medya-Verteidigungsgebiete einnehmen? Stehen Sie dazu mit Organisationen und Bewegungen in den anderen Teilen Kurdistans in Kontakt?
Ob es sich um Angriffe auf Şengal, die Medya-Verteidigungsgebiete, Rojava, Rojhilat oder irgendeinen anderen Ort in Kurdistan handelt, wir werden die Angriffe nicht akzeptieren und Haltung beziehen. Die Guerillakämpfer:innen in den Medya-Verteidigungsgebieten sind die Kinder von Rojava, Bakur, Başûr, Rojhilat und Şengal. Diejenigen, die uns in vier Teile geteilt haben, sind die, die uns auch heute wieder angreifen. Aus diesem Grund akzeptieren wir als Volk und als Bewegung diese Angriffe niemals. Alle Völker Kurdistans, insbesondere die mutige Bevölkerung von Başûr, sollten diese Angriffe als Einheit zum Scheitern bringen. Wir müssen an diesem Punkt insistieren. Als TEV-DEM und Rojava brauchen wir einen Nationalkongress. Ein Nationalkongress wird nicht allein das kurdische Volk verteidigen, er wird eine Quelle der Inspiration für den Nahen Osten darstellen. Er wird für die Einheit der Araber:innen, der Suryoye, der Tscherkess:innen, der Turkmen:innen und all der anderen Völker der Region sorgen. Mit dem Aufbau dieses Kongresses werden wir den ganzen Plan für den Nahen Osten zum Scheitern bringen. So werden wir die Partnerschaft der PDK mit dem türkischen Staat zerstören.
Als TEV-DEM stehen wir in Kontakt mit anderen Bewegungen, um gemeinsam gegen die Angriffe vorzugehen. Wir pflegen diese Kontakte, um gemeinsam Stellung zu beziehen. Wenn Şengal fällt, fällt Rojava. Wir sind alle eins und alles wirkt sich auf alle aus. Wenn Rojava siegt, dann hat das auch Einfluss auf Şengal. Ohne die Intervention der Bevölkerung von Rojava und der Guerilla im Jahr 2014 in Şengal hätte es ein noch viel größeres Massaker gegeben. 5.000 Frauen sind in die Hände des IS gefallen. Die Jugend aus Rojava erkannte die Grenzen nicht an. Die Guerillakämpfer:innen in den Medya-Verteidigungsgebieten haben gegen die Angriffe mobilgemacht. Als Hewlêr angegriffen wurde, eilten Guerillakräfte zu Hilfe und schützten Hewlêr. Dasselbe geschah bei den Angriffen auf Mexmûr. Das ist der geschaffene nationale Geist. Dieser Geist wird weder durch die Angriffe des türkischen Staates noch durch die Propaganda von PDK und ENKS gebrochen. Alle kämpften in einer Stellung und sie fielen gemeinsam. Dieser Geist kann nicht gebrochen werden. Deshalb betrachten wir jeden Angriff auf andere Orte in Kurdistan als einen Angriff auf Rojava.
Was bedeutet es, dass die PDK als vermeintlich „kurdische Kraft“ entschlossen ist, sich am türkischen Angriff zu beteiligen oder ihn zu unterstützen?
Man muss in Frage stellen, dass es sich bei ihnen um eine kurdische Kraft handelt. Das kurdische Volk hat sich über Jahrhunderte gegen Massaker, Angriffe und Besatzung gestellt und diese mit den Serhildan (Volksaufständen) zerschmettert. Es hat sich gegen Verrat und Kollaboration gestellt. Die PDK ist Komplizin des türkischen Staates. Das kurdische Volk und alle Organisationen müssen akzeptieren, dass diejenigen, die mit dem Feind zusammenarbeiten und versuchen, unsere Kraft durch Angriffe zu brechen, die Grundlage der kurdischen Identität verlassen haben. Die PDK greift die Guerilla in den Medya-Verteidigungsgebieten gemeinsam mit dem türkischen Staat an. Sie greift die Guerilla, die einzige Kraft, die die Welt vor den Angriffen und der Brutalität der IS-Banden schützt, an. Das ist unmenschlich. Die Guerilla hat 40.000 Gefallene zu verzeichnen, die ihr Leben bei der Verteidigung der kurdischen Errungenschaften in Bakur, Başûr, Rojava und Rojhilat verloren haben. Wenn die PDK mit den Besatzern zusammenarbeitet, dann hat sie sich selbst entmenschlicht.
Ich möchte mich an unser Volk in Başûrê Kurdistanê [Südkurdistan] wenden, insbesondere an die Frauen. Die Angriffe richten sich gegen die gesamte Gesellschaft, insbesondere gegen Frauen. Um diesen Krieg zu beenden, müssen wir eine Einheit schaffen, sowohl generell als auch als Frauen. Wir müssen Stellung beziehen, um die Errungenschaften, die wir erzielt haben, zu schützen.
„Ein Erfolg in Hesekê hätte Eroberung von Rojava eingeläutet“
Wie organisieren Sie die Gesellschaft gegen Angriffe. Es wird immer wieder vom revolutionären Volkskrieg gesprochen. Wird dies die Antwort auf die Angriffe sein?
Die Gesellschaft organisiert sich gegen die umfassenden Angriffe auf der Grundlage des revolutionären Volkskrieges. Es bedeutet nicht nur, eine Waffe zu ergreifen. Alle sollten sich in ihren Bereichen als Kämpfer:in verstehen. Ob Ärztin, Ingenieur oder Anwältin, alle müssen sich in ihrer Einheit als Kämpfende verhalten. Es gibt viele Arbeiten in dieser Hinsicht. Aber in Hinsicht auf den revolutionären Volkskrieg gibt es immer noch Mängel in unserer Organisierung. Die Abwehr des Angriffs auf das Gefängnis von Hesekê war ein kleiner revolutionären Volkskrieg. Wenn das Volk die Söldner nicht mit seinen Kämpferinnen und Kämpfern umzingelt hätte, wäre der IS in Hesekê einmarschiert. Der Angriff war ein Teil des Konzepts, Rojava zu erobern.
Trotz der großen Gefahr verließ niemand Hesekê. Die Gesellschaft war zu der Meinung gekommen, dass das Land nicht durch Flucht geschützt werden könne. Wir müssen unser Volk gemeinsam darauf vorbereiten, unser Land gegen umfassende Angriffe zu verteidigen.