„Frauen schreiben Geschichte“

Rîhan Loqo gehört zum nordostsyrischen Frauendachverband Kongra Star. In einem Interview mit ANF berichtet sie über die Entwicklung der Frauenbefreiung im Autonomiegebiet und betont die historische Rolle der Frauen.

Die Revolution von Rojava gilt nicht ohne Grund als Frauenrevolution. Auf der Grundlage von Abdullah Öcalans Paradigma der Frauenbefreiung entwickelte sich eine autonome Selbstorganisierung von Frauen auf allen Ebenen. Diese Selbstorganisierung nimmt bis hinunter in die Basisräte und Kommunen eine führende Rolle in allen Bereichen der Selbstverwaltungs- und Selbstverteidigungsstrukturen ein. Kongra Star ist die größte Dachorganisation von Frauen in in Nord- und Ostsyrien. Rîhan Loqo aus dem Koordinationskomitee hat sich im Interview mit ANF über die Entwicklungen in der Region und den bevorstehenden 8. März geäußert.

Wie hat sich die Frauenbewegung in Rojava seit dem 8. März 2021 im politischen, sozialen und diplomatischen Bereich entwickelt?

Die Frauenbewegung, Kongra Star und die Frauen in Rojava und Nordostsyrien haben einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung von Diplomatie, Politik, Presse, Kultur, Organisierung, Bildung, Wissenschaft und militärischen Selbstverteidigungsstrukturen in der Region geleistet. Sie führen in allen Bereichen die Arbeit an und beschränken sich nicht wie vor der Revolution auf Aktivitäten in den eigenen vier Wänden oder mit staatlicher Genehmigung. Durch das in Nordostsyrien entwickelte System haben die Frauen die Position erlangt, selbst zu entscheiden. Unzählige Projekte wurden von Frauen durchgeführt, das Leben wurde aus der Perspektive einer Frau neuaufgebaut und die Geschichte wurde unter Einbeziehung der Frauenperspektive neu geschrieben. Zu diesem Zweck wurde in Bereichen Diplomatie, Politik und Soziologie umfassend gearbeitet.

Unsere Anstrengungen, die Frauenrevolution bekannt zu machen, den Kampf zu verstärken und die Arbeit auszuweiten, alle Frauen zu erreichen, ihnen die Bedeutung von Kongra Star begreiflich zu machen und die Errungenschaften der Frauen weiterzuentwickeln, gehen weiter.

Alle fragen sich, warum unsere Revolution als Frauenrevolution definiert wird und suchen dahinter ein Geheimnis. Das Geheimnis ist: Frauen haben eine Frauenrevolution innerhalb der Revolution geschaffen, sie haben sich organisiert, gebildet, informiert und haben eine Frauenarmee aufgebaut. Kongra Star ist eine soziale Bewegung, welche die ganze Gesellschaft repräsentiert. Es gibt keinen Abstand zwischen Kongra Star und der Gesellschaft. Kongra Star ist ein gesellschaftliches Werk, es repräsentiert die Gesellschaft. Folglich gibt es keine Trennung zwischen der Gesellschaft und Kongra Star.

Wie viele Frauenorganisationen gibt es in Rojava unter dem Dach von Kongra Star, und wie interagiert der Verband mit den Institutionen innerhalb seiner Organisation?

Yekîtiya Star war die erste Frauenbewegung in Nordostsyrien und wurde am 15. Januar 2005 gegründet. Zum Zeitpunkt der Gründung führte das Baath-Regime eine grausame Kampagne gegen Frauen und die Bewegung durch. Infolgedessen war Yekîtiya Star im Geheimen aktiv. Damit sollten die Frauen erreicht, organisiert und gebildet werden. Trotz Angriffen, diversen Problemen, Verhaftungen und Repression konnten die Aktivitäten von Yekîtiya Star von Tag zu Tag weiter ausgeweitet werden.

In der Region gibt es inzwischen zahlreiche Frauenbewegungen. Aktivitäten werden in Damaskus, Homs, Aleppo und in ganz Syrien organisiert. Die Zentrale dieser Gruppen befindet sich jedoch in Nordostsyrien, denn hier gab es die Möglichkeit, die Frauenorganisierung aufzubauen. Dutzende von Organisationen, Bewegungen, Institutionen und Einrichtungen haben ihren Sitz im Nordosten Syriens. Als Beispiele können wir die Organisation Sara zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, die Organisation Nûdem und zahlreiche weitere Gruppen nennen. Im Zuge der jüngsten Entwicklungen wurde der Frauenrat von Syrien und der Frauenrat von Nord- und Ostsyrien ausgerufen. Insbesondere für die Regionen Raqqa, Tabqa und Deir ez-Zor wurde die Frauenvereinigung Zenobiya gegründet.  Diese Organisationen bauen Projekte auf, die ganz Syrien umfassen werden.

Als Kongra Star befinden wir uns mit allen Frauenorganisationen, die dem Frauenrat von Nord- und Ostsyrien angeschlossen sind, im Austausch. Wir arbeiten bei vielen Projekten zusammen. Der Kampf für Freiheit, Demokratie und Gleichheit ist der Kampf aller Frauen. Wir setzen unsere gemeinsame Arbeit für dasselbe Ziel fort. Alle Frauenorganisationen sind im Frauenrat von Nordostsyrien willkommen. Gemeinsam mit den Frauenbewegungen kämpfen wir gegen Gewalt an Frauen, für die Verteidigung der Errungenschaften der Revolution und für die Verteidigung vor den türkischen Angriffen auf die Region. Gleichzeitig bereiten wir gemeinsam mit allen Frauenbewegungen das Programm für den 8. März vor.

Ist es das Ziel von Kongra Star, alle Frauen in Syrien anzusprechen? Und wie sind Ihre Beziehungen zu Frauenorganisationen im gesamten Nahen Osten, insbesondere in Syrien?

In Syrien haben wir einen gewissen Organisierungsgrad. Wir sind in Aleppo und auch in Damaskus präsent. Wir haben ein Zentrum in Damaskus und in anderen vom syrischen Regime kontrollierten Gebieten, und wir haben gute Beziehungen zu Frauenorganisationen. Darüber hinaus haben wir ein offizielles Zentrum im Libanon. Wir haben auch Büros in Südkurdistan und in Europa. Wir arbeiten daran, unsere europäischen Organisationen zu stärken. Wir glauben, dass es wichtig ist, Zentren von Kongra Star auf in der ganzen Welt zu eröffnen. Es geht darum, ein freies Leben aufzubauen, den Kampf der Frauen auf der ganzen Welt zu verbreiten und eine Stimme der Revolution zu sein. Wir können beobachten, wie Kongra Star durch die Einheit, die Solidarität und die Organisierung der Frauen wächst. Kongra Star hat sich zu einer Anlaufstelle für alle Frauen entwickelt. Die Organisation hat sich in 13 Bereichen gegliedert, darunter Militär, Politik, Diplomatie, Journalismus, Kultur, Wirtschaft und Bildung, in denen jeweils Dutzende von Frauen vertreten sind. Jede Frau beteiligt sich aktiv in ihrem Bereich und übernimmt so eine Führungsrolle in der Gesellschaft.

Der soziale Bereich ist vielleicht eine der wichtigsten Säulen von Kongra Star. Wie sind die Entwicklungen hier?

Zunächst einmal möchte ich an Frauen wie Leyla Agirî, Zehra Berkel, Yadê Aqide, Yadê Emine, Hind und Sedaa erinnern, die im Widerstand ihr Leben geopfert und bis zur letzten Sekunde gekämpft haben. Wir verdanken diesen revolutionären Persönlichkeiten alles.

Unsere Arbeit zum Thema Gerechtigkeit wird breit fortgesetzt. Wir haben Paragraphen zu Frauenrechten, die Gleichstellung der Geschlechter, gegen frühe Eheschließungen, Zwangsheirat und Eheschließungen, die nicht dem demokratischen Familienmodell entsprechen, in den Vordergrund gestellt. Wir haben versucht, der Gesellschaft die Probleme zu erklären, die Kinderehen mit sich bringen. Wir haben viele Aktivitäten durchgeführt, um der Gesellschaft klarzumachen, warum wir diese Gesetze notwendig finden und warum wir wollen, dass sie umgesetzt werden. Wir haben uns in den letzten Jahren auf die Kinderehen konzentriert und unsere Bemühungen in dieser Richtung fortgesetzt. Als Kongra Star haben wir in den vergangenen Jahren hart daran gearbeitet, der Bevölkerung die Gründe zu vermitteln, warum wir Polygamie ablehnen. Wir haben uns gegen die wachsende Ausbreitung der Polygamie gestellt.

Darüber hinaus wurde eine umfangreiche Arbeit für das System des Ko-Vorsitzes durchgeführt. In Nordostsyrien wurde die genderparitätische Doppelspitze unter der Führung von Frauen eingerichtet. Wir haben genau verfolgt, wie sich die Umsetzung entwickelt. Natürlich dauerte es einige Zeit, bis sich dieses System etabliert hatte, da wir mit einer patriarchalen Haltung konfrontiert waren, die sich der Einführung dieses Systems widersetzte. Viele unserer Bemühungen zielten auf die Bildung der Männer ab, damit sie endlich das System aufrichtig akzeptieren. Aber es gibt immer noch Punkte, welche die Männer nicht akzeptieren . Es hat lange gedauert, sowohl Männer als auch Frauen in diesem Sinne zu bilden.

In diesem Jahr wurde das System des Ko-Vorsitzes nochmals entscheidend geändert. Auch bei den männlichen Freunden gab es wichtige Veränderungen. Die Perspektive der Frau und der Grundsatz, keine Entscheidung ohne Beteiligung der Frauen zu treffen und die Position von Frauen als Grundlage für Entscheidungen zu nehmen, standen im Vordergrund. Es ist heute selbstverständlich, Frauen als verantwortlich zu betrachten und ihre Existenz anzuerkennen. Die Männer haben verstanden, dass sie weder die einzigen Entscheidungsträger noch die Einzigen sind, die das Sagen haben. In diesem Jahr lag der Schwerpunkt auf der Bildung von Männern. Auch Frauen sollten aufgeklärt und sensibilisiert werden, aber ein einseitiger Kampf ist keine produktive Strategie. Deshalb haben wir uns auf die Bildung der Männer fokussiert. Es wurden Bildungsprogramme in verschiedenen Bereichen durchgeführt, darunter Frauengeschichte, Jineoloji, die Realität der Frauen, patriarchale Mentalität, Zusammenleben und andere Themen, und viele Männer nahmen an den Schulungen teil. Wir haben gesehen, dass das Ergebnis der jahrelangen Ausbildung in den Akademien in diesem Jahr noch produktiver war. Die Männer erkannten die Notwendigkeit von Veränderungen, und wir hatten sogar männliche Freunde in der Organisation, die ihr eigenes Geschlecht über den Kampf der Frauen aufklärten. Diese Arbeiten werden pausenlos fortgesetzt.

Die Frauen verteidigen sich selbst und ihr Land im revolutionären Volkskrieg. Sie kämpfen, um die Errungenschaften der Frauenrevolution und ihre Region zu schützen und ihre Identität als freie Frauen zu verteidigen.

Selbstverteidigung wird als selbstverständliche Verpflichtung angesehen. Die Gesellschaft hat verstanden, dass der Schutz unserer Region mehr als nur militärische Kraft erfordert. Die Menschen gaben die Haltung auf, von den YPG, die YPJ, den Kräften der Inneren Sicherheit und den QSD zu erwarten, dass lediglich sie dazu da seien, ihre Häuser, Nachbarschaften und Straßen zu schützen, und begriffen stattdessen die Selbstverteidigung als ihre eigene natürliche Verantwortung. Vor allem Frauen übernahmen Verantwortung und wurden zu Vorreiterinnen. Frauen verteidigen die Errungenschaften der Revolution Tag und Nacht.

Bildung, Wissenschaft und Diplomatie standen ebenfalls im Vordergrund. Wir haben zahlreiche Dokumente gesammelt, die die Folterstrategie des türkischen Staates, die Vergewaltigungen, Entführungen und Gewalt gegen Frauen in den besetzten Gebieten Efrîn, Girê Spî, Serêkaniyê, Bab, Idlib und Cerablus ans Tageslicht bringen. Wir wollen, dass die Revolution anerkannt wird, und die Welt Verantwortung für Nord- und Ostsyrien übernimmt. Wir befinden uns immer auf der Suche nach Möglichkeiten, den Kampf noch weiter zu verbessern.

Infolge der Besetzung von selbstverwalteten Gebieten in Nord- und Ostsyrien durch den türkischen Staat sind viele Frauen aus Rojava seit langem gezwungen, in Lagern zu leben. Wie hoch ist der Organisierungsgrad der Frauen in den Lagern?

Die Selbstverwaltung von Nordostsyrien hat den Menschen geholfen, die durch Angriffe und Invasion in die gezwungen wurden. Die Organisationen, die in den Lagern tätig sind, arbeiten in allen Bereichen zusammen, vom Bau der Lager bis hin zur Organisierungsarbeit, dem Bildungssystem und der Ökonomie. In den Lagern gibt es Einrichtungen für Frauen und Frauenhäuser. Die Projekte werden in den Lagern auf dieselbe Weise geplant wie in den Städten, die in den selbstverwalteten Gebieten liegen. Es gibt da keine Unterscheidung. Natürlich beteiligt sich auch das Volk an den Projekten. Die Menschen, die in den Lagern leben, haben eine starke Überzeugung und setzen ihr kommunales, gemeinsames Leben fort. Wir sind immer mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln für sie da. Das heißt sie sind wir und wir sind sie.

Welche Wirkung hat diese Arbeit auf die Frauen?

Wenn wir die Menschen, die Mütter und Väter sehen, die aus den besetzten Gebieten fliehen mussten, ist die erste Frage, die sie uns stellen: „Wann bekommen wir unser Land zurück?“ Wir sehen eine Realität von Menschen, die in keiner Weise bereit sind, ihre Heimat aufzugeben. Diese Verbundenheit mit dem Land ist etwas sehr Bedeutendes. Unser Volk hat eine starke Bindung an sein Land. Bisher weigern sich die Menschen, die Besetzung anzuerkennen. Sie warten weiterhin auf ihr Ende und die Rückkehr. Daraus ergeben sich natürlich auch erhebliche psychologische Herausforderungen. Es kommt unweigerlich zu psychologischen, physiologischen und sozialen Problemen. Natürlich ist es nicht dasselbe, diese Gefühle zur Sprache zu bringen, als diese selbst zu erleben, aber unser Volk hat schon so viel durchgemacht. Insbesondere die psychischen Probleme unserer Väter und Mütter [d.h. der älteren Menschen] in den Lagern verschlimmern sich von Tag zu Tag. Das hängt mit ihrer starken Bindung an ihre Heimat zusammen. Sie sagen, dass es dennoch weiterhin eine Selbstverwaltung gibt, dass sie mit ihren Leuten zusammenleben und die Gelegenheit haben, ein kommunales Leben zu führen. So legen sie größten Widerstand an den Tag. Es gab Aufrufe [von mit der Türkei kollaborierenden Gruppen, wie dem ENKS] zur Rückkehr in die besetzten Gebiete, aber die Menschen hörten nicht darauf. Sie sagten: „Diejenigen, die uns unser Haus nehmen, die uns in Flucht zwingen, die unsere Errungenschaften jeden Tag angreifen, akzeptieren wir nicht.“ Mit großer Leidenschaft setzen sie ihr Leben auch im Lager fort. Natürlich ist es schwierig, zu warten und nur mit der Hoffnung auf Rückkehr zu leben.

Kurdische Frauen setzen sich auch in Nord- und Ostsyrien für die Freilassung von Abdullah Öcalan ein. Warum ist das so?

Der Kampf der Frauen ist gewachsen und hat dank der Konzepte und der Ideologie von Rêber Apo [Abdullah Öcalan] sein heutiges Niveau erreicht. Die erste Aufgabe der Kampagne, die wir als Frauen des Nordostens Syriens am 8. März 2022 unter dem Motto „Wir werden unsere Revolution schützen und unsere Gebiete befreien“ gestartet haben, ist die Forderung nach der physischen Befreiung von Rêber Apo. Alle die Rêber Apo zu Dank verpflichtet sind, sollten sich beteiligen. Die Freiheit von Rêber Apo ist die Freiheit der Frauen und damit auch die Freiheit der Gesellschaft. Mit unserer Einigkeit, Solidarität und Organisierung bauen wir eine freie, gleiche und demokratische Gesellschaft auf. Niemand kann das aufhalten. Wir laden alle Frauen ein, am 8. März auf die Straße zu gehen. Als Frauen, die mit ihrem freien Wollen kämpfen, müssen wir die Welt hören lassen, dass wir siegen werden.