2014 aus Şengal verschleppt
Seit der Zerschlagung des IS-Pseudostaats in Syrien konnten mehr als 400 aus dem Şengal verschleppte Ezidinnen und Eziden befreit werden. Diese Zahl nannte das „Mala Êzdiyan“ in einem am Wochenende veröffentlichten Bericht. Insgesamt 431 ezidische Opfer der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS), darunter 274 Frauen und Mädchen, sind dem Bericht zufolge in den vergangenen fünf Jahren aus der IS-Gefangenschaft befreit und in ihre Heimat zurückgeführt worden. Ismail Dalaf, der Ko-Vorsitzender der in Hesekê ansässigen NGO ist, erklärte: „Wir sind entschlossen, alle Geiseln zurückzubringen.“
74 Völkermorde in der ezidischen Geschichte
Der IS hatte 2014 weite Teile des Irak und Syriens überrannt und eine Schreckensherrschaft installiert. Über die Staatsgrenzen hinweg rief die Dschihadistenmiliz ein „Kalifat“ aus. Am 3. August 2014 überfiel der IS das im Nordwesten des Irak gelegene Şengal mit dem Ziel, die bereits seit Jahrhunderten als „Teufelsanbeter“ verfolgte ezidische Religionsgemeinschaft auszulöschen. Durch systematische Massakrierung, Vergewaltigung, Folterung, Vertreibung, Versklavung von Mädchen und Frauen sowie der Zwangsrekrutierung von Jungen als Kindersoldaten erlebten die Ezidinnen und Eziden den von ihnen als Ferman bezeichneten 74. Völkermord in ihrer Geschichte.
Mindestens 10.000 Menschen fielen laut Schätzungen der Vereinten Nationen (UN) den Massakern in Şengal zum Opfer. Mehr als 400.000 Menschen wurden aus ihrer Heimat vertrieben, über 7.000 Frauen und Kinder verschleppt. Bis heute befinden sich etwa 2.700 der Entführten in der Gewalt ihrer Peniger, die meisten davon sind Frauen und Kinder. Die Frauen und jungen Mädchen werden bis heute systematisch vergewaltigt und als Sklavinnen gehalten und verkauft. Daher stellt dieser Genozid in seiner Form zugleich auch einen Feminizid dar.
Ismail Dalaf, Archivbild (c) ANHA
Aus dem Irak konnte der IS Ende 2017 weitestgehend vertrieben werden. In Syrien endete die Territorialherrschaft der Dschihadisten im März 2019, als die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) im Rahmen einer langen und opferreichen Befreiungsoffensive mit dem Namen „Gewittersturm Cizîrê“ die letzte IS-Enklave Baghuz einnahmen. Seither setzen sich die Behörden der Demokratischen Selbstverwaltung in der Region Nord- und Ostsyrien (DAANES) gemeinsam mit ihren Sicherheitskräften (Asayîş) sowie Militärverbänden und humanitären Einrichtungen wie dem Mala Êzdiyan, was zu Deutsch „Ezidisches Haus“ bedeutet, dafür ein, in IS-Gefangenschaft verbliebene Ezid:innen zu erkennen und zu befreien.
Drei Ezidinnen erst kürzlich aus Hol befreit
Ein Großteil der bis heute in der Region befreiten Entführungsopfer aus dem Şengal wurden im Auffang- und Internierungslager Hol entdeckt. Beim Fall von Baghuz hatten viele IS-Familien ausgebeutete Ezid:innen als Familienangehörige ausgegeben. So verblieben viele von ihnen noch Jahre in Gefangenschaft. Das Mala Êzdiyan geht davon aus, dass es in dem Camp noch eine Vielzahl von Entführten aus Şengal gibt. Ein Grund, dass sie sich nicht zu erkennen geben, sei Angst, ihre Kinder zu verlieren oder gefoltert und getötet zu werden. Dennoch gelingen der Organisation immer wieder Erfolge. So waren in Hol erst kürzlich eine ezidische Frau und zwei Mädchen von der Asayîş befreit worden. Bei der Frau handelt es sich um eine Bewohnerin des Dorfes Koço, eines der Mädchen ist ihre Tochter. Das andere Mädchen ist eine Zehnjährige, die beim Genozid erst wenige Monate alt war und damals von ihrer Mutter getrennt wurde.
Nach Traumatherapie Rückführung nach Şengal
Koço gehört zu jenen Ortschaften in Şengal mit den höchsten Opferzahlen während des Genozids. Das Dorf wurde vom IS fast vollständig ausgelöscht. Lebten bis zum Zeitpunkt des Überfalls noch mehr als 1.800 Menschen in Koço, wurden am 15. August 2014 an einem einzigen Tag etwa 600 der männlichen Bewohner getötet, nur weil sie sich weigerten, zum Islam zu konvertieren. Fast 700 Frauen und rund 300 Kinder wurden verschleppt und sexuell ausgebeutet beziehungsweise zu Kindersoldaten ausgebildet. Von etwa 400 Menschen fehlt bis heute jede Spur. Die nun befreiten Ezidinnen können schon bald nach Koço zurückkehren. Noch befinden sie sich in der Obhut des Mala Êzdiyan. Laut Ismail Dalaf erhalten sie zunächst eine Traumatherapie und medizinische Betreuung: „Die Missbrauchserfahrungen lassen ezidische Entführungsopfer tief verstört und verängstigt zurück.“ Auch nach der Befreiung könne die Situation sehr belastend und gekennzeichnet von Zukunftsängsten sein. Diese verhinderten wiederum die aktive Aufarbeitung der traumatischen Erlebnisse. „Sie befinden sich nun in einer geschützten Umgebung und erhalten eine psychotherapeutische und gesundheitliche Behandlung. Danach werden wir sie mit ihren Familien im Şengal vereinen.“
Titelbild: Eingang des Mala Êzdiyan (c) Rojava Information Center