Vorstandsmitglieder der HDP wegen Genozid-Benennung verurteilt

Gegen zwölf frühere Mitglieder des Zentralvorstands der HDP sind Haftstrafen wegen „Herabsetzung der türkischen Nation“ verhängt worden. Grundlage der Verurteilungen ist die Benennung des Genozids an den Armenier:innen.

Leugnung und Verhöhnung der Opfer

Ein Gericht in der Türkei hat zwölf frühere Mitglieder des Zentralvorstands der HDP zu Haftstrafen in Höhe von jeweils fünf Monaten verurteilt. Die Strafkammer des Landgerichts Ankara sah es am Donnerstag als erwiesen an, dass die Angeklagten sich einer „Herabsetzung der türkischen Nation“ nach dem sogenannten „Türkentum-Paragrafen“ schuldig gemacht hätten. Grundlage des Urteils ist die Benennung des Genozids an den Armenierinnen und Armeniern im Osmanischen Reich.

In einer Stellungnahme, die am 24. April 2021 anlässlich des Völkermordgedenktages veröffentlicht worden war, hatte der damalige HDP-Vorstand die Anerkennung und Aufarbeitung der Verbrechen gefordert, denen im Wesentlichen zwischen 1915 und 1917 etwa 1,5 Millionen Armenier:innen zum Opfer fielen. Die Oberstaatsanwaltschaft Ankara widmete dies in eine „gezielte Demütigung der Türken“ um und stellte im Eiltempo beim Justizministerium einen Antrag für die Absegnung einer Anklage gegen insgesamt 26 Mitglieder des HDP-Vorstands. Anklagen nach Artikel 301 sind von der Autorisierung des Justizministers abhängig. In dem Antrag hieß es:

„Solange wir nicht gemeinsam geweint haben, bleibt Aghet eine offene Wunde im kollektiven Bewusstsein“ – Genozid-Gedenken 2023 in Istanbul-Tatavla. Die Deportation der armenischen Elite am 23. und 24. April 1915 und ihre spätere Ermordung markiert den symbolischen und sichtbaren Auftakt des Völkermords (c) Zeynep Kuray / ANF

Haarsträubende Begründung für Anklage

„Der türkische Staat und seine Nation werden eines Völkermords bezichtigt, der gar nicht stattgefunden hat. Genozid ist erst seit der UN-Konvention [über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes] von 1948 ein Straftatbestand im Völkerstrafrecht. Daher kann gegen eine Nation oder Gemeinschaft keine Anschuldigung des Genozids aufgrund schmerzvoller Erfahrungen erhoben werden, die zu irgendeinem Zeitpunkt vor 1948 erlebt wurden. Um eine Tat zum Völkermord zu erklären, bedarf es eines Urteils eines zuständigen Gerichts. Im Hinblick auf die Ereignisse im Jahr 1915 liegt jedoch kein derartiges Urteil vor. Wird das Gegenteil behauptet, sind die Grenzen der zulässigen Kritik, die von der Meinungsfreiheit abgedeckt werden, überschritten. Dies gilt auch für Abgeordnete einer Partei der türkischen Nationalversammlung, die den Eid abgelegt haben, die Verfassung und die Gesetze zu beachten und die Pflichten ihres Amtes gewissenhaft zu erfüllen, sowie auch für Mitglieder des Leitungsorgans der Partei. Eklatante Beleidigungen des türkischen Staates und seiner Nation können nicht von der Meinungsfreiheit umfasst sein.“

Anklage zunächst gegen elf Personen

Das Ministerium genehmigte zunächst Anklage gegen elf Mitglieder der damaligen HDP-Spitze, darunter der im Kobanê-Verfahren inhaftierte Ökonom Alp Altınörs, der Soziologe Veli Saçılık, der beim Gefängnismassaker „Operation Rückkehr ins Leben“ 2000 seinen rechten Arm verlor, und der Sprecher der 78er-Initiative Celalettin Can. Später wurde auch Tuncer Bakırhan, der derzeitige Ko-Vorsitzende der DEM-Partei, in das Verfahren mit einbezogen. In ihrer Anklageschrift zitierte die Staatsanwaltschaft auf nahezu allen Seiten aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) im Zusammenhang mit Meinungsfreiheit. Im Besonderen widmete sich die Behörde der Causa Doğu Perinçek gegen die Schweiz, allerdings in verzerrter Form.

Anklage verzerrt europäische Rechtsprechung zu Meinungsfreiheit

Der türkische Nationalist hatte 2005 den Genozid am armenischen Volk während Auftritten in der Schweiz als „internationale Lüge“ bezeichnet. Es habe „ethnische Konflikte, Abschlachtungen und Massaker zwischen Armeniern und Muslimen“ gegeben, aber „keinen Völkermord“. Für diese Äußerungen war Perinçek mit Verweis auf die schweizerische Rassismus-Strafnorm verurteilt worden. Zu Unrecht, urteilte der EGMR Ende 2013 und sah einen Verstoß gegen das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gegeben. Zwei Jahre später bestätigte die Große Kammer mit zehn gegen sieben Stimmen das erstinstanzliche Urteil, gegen das die Schweiz Rechtsmittel eingelegt hatte. Der EGMR argumentierte, die umstrittenen Äußerungen seien nicht als ein „Angriff auf die Würde“ der Armenier:innen zu werten, der eine strafrechtliche Antwort der Schweizer Justiz erforderte. Kein internationales Gesetz verpflichte die Schweiz, solche Äußerungen zu kriminalisieren. Die Schweizer Gerichte hätten den Kläger offenbar dafür bestraft, dass seine Meinung von „den in der Schweiz etablierten“ Meinungen abweiche.

Gesetz sieht keinen Schutz des „Ansehens” der Osmanen vor

Die Oberstaatsanwaltschaft Ankara sieht in dem EGMR-Urteil zu Perinçek eine Bestätigung für die offizielle Staatsideologie der Türkei, es habe keinen Genozid am armenischen Volk, sondern lediglich „kriegsbedingte Sicherheitsmaßnahmen“ gegeben. Der Hinweis auf die „erst“ 1948 beschlossene UN-Völkermordkonvention – der Text wurde maßgeblich von Raphael Lemkin formuliert, der den Begriff des Genozids 1944 unter dem Eindruck der Vernichtung der armenischen Nation und der Vernichtung der Juden geprägt hatte – sollte offenbar besagen, dass das Verhalten der Täter nicht mit einer juristischen Kategorie belegt werden könne, da diese zu seinem Zeitpunkt noch gar nicht existierte. Dieser Auffassung entgegnete Verteidiger Ali Cangı, dass die Forderung auf Anerkennung und Aufarbeitung einen Völkermord betreffe, der vor der Gründung der Türkei verübt wurde. Artikel 301 regele die „Beleidigung der türkischen Nation, des Staates der türkischen Republik und der Institutionen und Organe des Staates“ und allgemein sehe das türkische Strafrecht es nicht vor, das „Ansehen des Osmanischen Reiches“ zu schützen. Die Klage sei unbegründet und die Anklagten freizusprechen.

Meinungsfreiheit auf der Anklagebank

„In diesem Saal sitzt heute die Meinungsfreiheit auf der Anklagebank“, monierte Rechtsanwältin Senem Doğanoğlu. Es liege aber gar kein Verstoß vor, der einen Eingriff in dieses Grundrecht rechtfertigen würde. „Die Forderung nach der Anerkennung großen Leids und eine Auseinandersetzung damit ist menschlich. Sie darf in einer demokratischen Gesellschaft nicht als Straftat verfolgt werden.“ Das Gericht lehnte den Antrag auf Freisprüche ab und verurteilte alle Angeklagten zunächst zu sechs Monaten Haft, reduzierte das Strafmaß dann um einen Monat. Die Urteilserläuterung wurde allerdings aufgeschoben. Das ist eine Sonderregel im türkischen Recht, die sich ähnlich wie die Bewährung auswirkt. Die Verteidigung hat bereits Berufung angekündigt.

Titelbild: Genozid-Gedenken in Berlin, April 2021 (c) ANF