Genozid-Benennung „Gefahr für die nationalen Interessen“

Gegen elf frühere Mitglieder des Zentralvorstands der HDP ist Anklage erhoben worden. Ihnen wird vorgeworfen, den Genozid am armenischen Volk benannt und seine Anerkennung gefordert zu haben – laut Staatsanwalt eine „Gefährdung der nationalen Interessen“.

Die Oberstaatsanwaltschaft Ankara hat Anklage gegen elf ehemalige Mitglieder des Zentralvorstands der Demokratischen Partei der Völker (HDP) erhoben. Ihnen werde „Herabsetzung der türkischen Nation“ vorgeworfen, wie die Behörde mitteilte. Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuches bedroht dieses Vergehen mit bis zu zwei Jahren Haft.

Grundlage des Verfahrens ist die Benennung des Genozids an der armenischen Nation im Osmanischen Reich. In einer Stellungnahme, die am 24. April 2021 anlässlich des Völkermordgedenktages veröffentlicht worden war, forderte der damalige HDP-Vorstand die Anerkennung und Aufarbeitung der Verbrechen, denen im Wesentlichen zwischen 1915 und 1917 etwa 1,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Die Staatsanwaltschaft widmet dies in eine „gezielte Demütigung der Türken“ um und befürchtet, dass die nationalen Interessen gefährdet sein könnten.

Anklage von Justizminister genehmigt

Die Ermittlungen waren unmittelbar nach Veröffentlichung der HDP-Erklärung eingeleitet worden. Im Dezember war dann beim Justizministerium ein Antrag für die Absegnung einer Anklage gegen insgesamt 26 Mitglieder des Parteivorstands eingereicht worden, darunter auch die Vizefraktionsvorsitzenden Meral Danış Beştaş und Saruhan Oluç sowie die Abgeordneten Garo Paylan, Feleknas Uca und Ümit Dede. Anklagen nach Artikel 301 sind von der Autorisierung des Justizministers abhängig. Auch der inhaftierte Ökonom Alp Altınörs und der bekannte Soziologe Veli Saçılık, der beim Gefängnismassaker „Operation Rückkehr ins Leben“ 2000 seinen rechten Arm verlor, sind von dem Verfahren betroffen.

„Beleidigungen des Türkentums nicht von Meinungsfreiheit umfasst“

„Der türkische Staat und seine Nation werden eines Völkermords bezichtigt, der gar nicht stattgefunden hat“, hatte es in einem ersten Ermittlungsbericht der Staatsanwaltschaft Ankara geheißen, der dem Justizministerium vor einem Jahr vorgelegt worden war. Zur haarsträubenden Begründung hieß es: „Genozid ist seit der UN-Konvention [über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes] von 1948 ein Straftatbestand im Völkerstrafrecht. Daher kann gegen eine Nation oder Gemeinschaft keine Anschuldigung des Genozids aufgrund schmerzvoller Erfahrungen erhoben werden, die zu irgendeinem Zeitpunkt vor 1948 erlebt wurden. Um eine Tat zum Völkermord zu erklären, bedarf es eines Urteils eines zuständigen Gerichts. Im Hinblick auf die Ereignisse im Jahr 1915 liegt jedoch kein derartiges Urteil vor.“ Wird das Gegenteil behauptet, seien die Grenzen der zulässigen Kritik, die von der Meinungsfreiheit abgedeckt werden, überschritten. Dies gelte auch für Abgeordnete einer Partei der türkischen Nationalversammlung, die den Eid abgelegt hätten, die Verfassung und die Gesetze zu beachten und die Pflichten ihres Amtes gewissenhaft zu erfüllen, sowie auch für Mitglieder des Leitungsorgans der Partei. „Eklatante Beleidigungen des türkischen Staates und seiner Nation können nicht von der Meinungsfreiheit umfasst sein.“

Ankläger verzerrt Causa Perinçek gegen Schweiz

In ihrer Anklageschrift zitiert die Staatsanwaltschaft wie bereits auch im vorherigen Ermittlungsbericht auf nahezu allen Seiten aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) im Zusammenhang mit Meinungsfreiheit. Im Besonderen widmete sich die Behörde hier der Causa Doğu Perinçek gegen die Schweiz, allerdings in verzerrter Form. Der türkische Nationalist hatte 2005 den Genozid am armenischen Volk während Auftritten in der Schweiz als „internationale Lüge“ bezeichnet. Es habe „ethnische Konflikte, Abschlachtungen und Massaker zwischen Armeniern und Muslimen“ gegeben, aber „keinen Völkermord“. Für diese Äußerungen war Perinçek mit Verweis auf die schweizerische Rassismus-Strafnorm verurteilt worden. Zu Unrecht, urteilte der EGMR Ende 2013 und sah einen Verstoß gegen das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gegeben. Zwei Jahre später bestätigte die Große Kammer mit zehn gegen sieben Stimmen das erstinstanzliche Urteil, gegen das die Schweiz Rechtsmittel eingelegt hatte. Der EGMR argumentierte, die umstrittenen Äußerungen seien nicht als ein „Angriff auf die Würde“ der Armenier:innen zu werten, der eine strafrechtliche Antwort der Schweizer Justiz erforderte. Kein internationales Gesetz verpflichte die Schweiz, solche Äußerungen zu kriminalisieren. Die Schweizer Gerichte hätten den Kläger offenbar dafür bestraft, dass seine Meinung von „den in der Schweiz etablierten“ Meinungen abweiche.

„Kriegsbedingte Sicherheitsmaßnahmen“

Die Oberstaatsanwaltschaft Ankara sieht in dem EGMR-Urteil zu Perinçek eine Bestätigung für die offizielle Staatsideologie der Türkei, es habe keinen Genozid am armenischen Volk, sondern lediglich „kriegsbedingte Sicherheitsmaßnahmen“ gegeben. Der Hinweis auf die „erst“ 1948 beschlossene UN-Völkermordkonvention – der Text wurde maßgeblich von Raphael Lemkin formuliert, der den Begriff des Genozids 1944 unter dem Eindruck der Vernichtung der armenischen Nation und der Vernichtung der Juden geprägt hatte – soll offenbar besagen, dass das Verhalten der türkischen Täter nicht mit einer juristischen Kategorie belegt werden könne, da diese zu seinem Zeitpunkt noch gar nicht existierte.

Prozesstermin noch unklar

Wann der Prozess gegen die elf Anklagten beginnt, ist indes noch unklar. Auch ist nicht bekannt, an welches Gericht die Anklage ging, sehr wahrscheinlich aber an ein Schwurgericht. Dort entscheidet die zuständige Kammer über die Eröffnung des Hauptverfahrens und einen Prozesstermin.

301: Wirksames Instrument gegen Opposition

Oppositionelle und unliebsame Intellektuelle werden in der Türkei immer wieder wegen der vermeintlichen Herabsetzung des Türkentums vor Gericht gezerrt, um Meinungsfreiheit und Grundrechte einzuschränken. Der 2007 in Istanbul ermordete armenische Journalist Hrant Dink wurde als erster explizit wegen „Beleidigung des Türkentums“ angeklagt und zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Seinem Sohn Arat Dink wurde das Delikt ebenfalls zum Vorwurf gemacht. Die Anwältin und Menschenrechtlerin Eren Keskin dürfte die am häufigsten auf Grundlage des umstrittenen Artikels angeklagte Person in der Türkei sein. Gegen sie wurde dutzende Male Anklage wegen Verstoß gegen § 301 erhoben, auch aktuell sind etliche Verfahren anhängig.