Gedenken in Tatavla: „Solange wir nicht gemeinsam geweint haben“

„Solange wir nicht gemeinsam geweint haben, bleibt Aghet eine offene Wunde im kollektiven Bewusstsein“ – die YSP hat in Istanbul der armenischen Elite gedacht, deren Verhaftung den symbolischen und sichtbaren Auftakt des Völkermords von 1915 markiert.

In der Nacht vom 23. auf den 24. April 1915 setzte in Konstantinopel (heute Istanbul) auf Anordnung des osmanischen Innenministers Talat Pascha eine Verhaftungswelle gegen die armenische Führungselite ein. Die Massenverhaftung von rund 250 armenischen Abgeordneten, Journalisten, Lehrern, Ärzten, Apothekern, Kaufleuten und Bankiers binnen weniger Stunden, ihre Deportation nach Ankara und schließlich ihre Ermordung markiert den symbolischen und sichtbaren Auftakt des Genozids an den Armenierinnen und Armeniern im Osmanischen Reich, dem ersten millionenfachen Mord des 20. Jahrhunderts.

Im Istanbuler Bezirk Kurtuluş („Befreiung”), einst ein überwiegend griechisch-orthodoxer Stadtteil mit einer hohen armenischen und sephardisch-jüdischen Bevölkerung, dessen Name bis zu einem Großbrand 1929 Tatavla lautete (griechisch für Pferdestall), begann die Verhaftung der armenischen Elite – genauer genommen im Viertel Pangaltı. Dort richtete der lokale Verband der Grünen Linkspartei (Yeşil Sol Parti, YSP) an diesem Sonntag eine Gedenkveranstaltung für die mindestens 1,5 Millionen Opfer von Aghet aus, wie Armenierinnen und Armenier die „Katastrophe“ von 1915 nennen.

Nach der Deportation der Elite liefen die Ereignisse nach einem festen Muster ab: wehrfähige armenische Männer wurden in Arbeitsbataillone gesteckt und getötet. Kranke, Greise, Kinder und Frauen mussten sich auf Todesmärsche in die Wüsten Syriens begeben. Dort wurden sie in Konzentrationslagern zusammengefasst, unter denen die größten um Raqqa und Deir ez-Zor lagen. Durch periodische Massaker, Vergewaltigungen und Verschleppungen – keineswegs nur von kurdischen Angehörigen der „Hamidiye-Regimenter“ oder den muslimischen Dorfbewohner:innen aus der Nachbarschaft, sondern häufig auch von den Soldaten und Gendarmen der türkischen Begleitmannschaften, die offiziell eigentlich zum „Schutz der Deportierten“ abgestellt waren – wurden die Deportationszüge bereits unterwegs so dezimiert, dass nur wenige der völlig entkräfteten Menschen schließlich die Lager in der Wüste Syriens erreichten.


Durch Leugnen bleibt das Verbrechen als dauerhaftes Schandmal der Türkei erhalten

„Solange wir nicht gemeinsam geweint haben, bleibt Aghet eine offene Wunde im kollektiven Bewusstsein“, sagte die Armenierin Ani Kalk, die im Vorstand der Istanbuler YSP sitzt. Sie forderte die Türkei auf, die sich als Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches sieht, sich ihrer Vergangenheit zu stellen, sie aufzuarbeiten und die systematische Vernichtung der armenischen Nation und anderer christlichen Ethnien während des Ersten Weltkriegs als Genozid anzuerkennen. Nur wenn es die Fähigkeit gebe, den schmerzhaften Erfahrungen Raum zu geben, zuzuhören und gemeinsam zu trauern, könne man sich das über das gemeinsame Gedenken an die Opfer und die Aufarbeitung der Vergangenheit versöhnen. Die türkische Regierung leugnet jedoch seit jeher, dass ein Völkermord stattgefunden hat. „So aber, durch das ständige Leugnen, bleibt das Verbrechen als dauerhaftes Schandmal der Türkei erhalten“, betonte Ani Kalk.

Verweigerte Anerkennung bedeutet aktuelle Verteidigung der eigenen Legitimität

Laut Kalk seien zwei wichtige Faktoren als Auslöser der Verbrechen an der armenischen Bevölkerung zu sehen: Die „Modernisierungsbestrebungen“ des Osmanischen Reiches von einem multireligiösen und multiethnischen Imperium zu einem zentralistischen und homogenen, türkischen Nationalstaat, sowie die Türkisierung der Wirtschaft. Denn das Vermögen der enteigneten armenischen Opfer des Völkermords wurde Startkapital für die angestrebte türkisch-sunnitische Bourgeoisie. Die Frage, warum die Türkei den Völkermord von 1915 bis heute leugnet und stattdessen auf ihrer Version der Geschehnisse beharrt, in der die Ereignisse als „gegenseitige Ermordung von ein paar hunderttausenden Menschen“ bezeichnet werden, beantwortete Ani Kalk selbst: „Die Weigerung, die Tatsache des Genozids anzuerkennen, ist eine aktuelle Verteidigung der eigenen Legitimität.“

Türkei muss Gründungsmythos infrage stellen

Die Türkei müsste ihren Gründungsmythos infrage stellen und ihr Verständnis von Nationen und Minderheiten überdenken, um an den Punkt zu gelangen, ihre Geschichte aufzuarbeiten und den rassistisch motivierten, systematischen Massenmord vor 108 Jahren anzuerkennen, meint Kalk. Stattdessen bediene sie sich an der Leugnung eines historisch belegten Genozids, erkläre dieses Kapitel ihrer Geschichte zum Tabu und lasse sich folglich noch nicht mal auf keine Diskussionen darüber ein. Diese Verdrängung sei gewollt und diene dazu, den Untergang des einst mächtigen Imperiums der osmanischen Sultane zu einer vermeintlich heldenhaften Neugründung eines Nationalstaates auszulegen. Denn allein schon die Diskussion über den Völkermord würde eine Anerkennung dessen bedeuten, dass die Ermordung und Vertreibung der Armenierinnen und Armenier im Osmanischen Reich den wohl größten Grundstein der türkischen Republik gelegt haben dürfte..

Erinnern an Hrant Dink und Sevag Balıkçı

Die Gedenkveranstaltung wurde begleitet von mystischen Klängen der armenischen Duduk und Klageliedern, die vom Genozid handelten, vom Auswandern und dem Verlust der Heimat. Auf Transparenten, die auf dem Platz lagen oder von den Teilnehmenden hochgehalten wurden, waren Mitglieder der armenischen Elite zu sehen, die 1915 aus Konstantinopel verschleppt wurden. Auch die Konterfeis des armenischen Journalisten Hrant Dink, der am 19. Januar 2007 von einem jugendlichen Ultranationalisten vor seiner Istanbuler Zeitung Agos ermordet wurde, und des ebenfalls armenischstämmigen Wehrpflichtigen Sevag Şahin Balıkçı, der am 24. April 2011, dem Gedenktag für die Opfer von Aghet, bei der Ableistung des Militärdienstes in Êlih (tr. Batman) von einem türkischen Rekruten erschossen wurde, blickten auf die Menschenansammlung. Zudem wurde kritisiert, dass ein für den morgigen Montag in Istanbul geplantes stilles Aghet-Gedenken der „Plattform 24. April“ durch das Gouverneursamt mit der Begründung „unangemessen“ verboten wurde.