Der türkische Verfassungsgerichtshof in Ankara hat eine Beschwerde gegen die Inhaftierung von Ebru Timtik und Aytaç Ünsal abgelehnt. Eine Grundrechtsverletzung ist laut dem Gericht nicht erkennbar, da sich beide derzeit in einem Krankenhaus befinden, wo eine medizinische Behandlung erfolgen könnte, sofern sie notwendig sei. Damit seien ihr Leben oder ihre körperliche Unversehrtheit nicht gefährdet oder beeinträchtigt. Dass die beiden Jurist*innen im Krankenhaus dem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, sich mit dem Coronavirus zu infizieren, erkannte das Gericht nicht.
Ebru Timtik und Aytaç Ünsal von der linken Vereinigung „Rechtsbüro des Volkes“ („Halkın Hukuk Bürosu“) waren gemeinsam mit weiteren inhaftierten Rechtsanwält*innen im Februar in den Hungerstreik getreten, den sie am 5. April – dem „Tag des Anwalts” – in ein „Todesfasten” umgewandelt hatten. Die Jurist*innen waren im Komplex der Verfahren gegen vermeintliche Angehörige der DHKP-C aufgrund von widersprüchlichen Aussagen eines Kronzeugen zu langjährigen Haftstrafen nach Terrorparagrafen verurteilt worden und fordern mit ihrer Aktion ein gerechtes Verfahren.
Für Timtik und Ünsal stellte die Istanbuler Gerichtmedizin am 30. Juli eine Haftunfähigkeitsbescheinigung aus. Noch am selben Tag lehnte die 37. Kammer des Istanbuler Strafgerichts einen Antrag auf Freilassung der beiden ab. Daraufhin wurden die Rechtsanwält*innen gegen ihren Willen in zwei verschiedene Istanbuler Krankenhäuser eingewiesen, wo sie zwangsernährt werden sollten. Auch eine Anfechtung vor einer höheren Instanz änderte nichts an der Entscheidung, beide weiterhin in Haft verbleiben zu lassen. Vergangenen Donnerstag hat die 38. Kammer am selben Gericht das fragwürdige Urteil bestätigt. Daraufhin reichte ihr Rechtsbeistand einen Eilantrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Aufhebung des Haftbefehls beim Verfassungsgericht ein, der nun abgelehnt wurde.
Anwaltskammern: Timtik und Ünsal sollen leben
Am Mittwoch gaben die Vorsitzenden von 33 Anwaltskammern in der Türkei eine gemeinsame Erklärung für Ebru Timtik und Aytaç Ünsal ab und betonten, dass nicht nur das Leben ihrer Kolleg*innen gefährdet sei, sondern gleichzeitig das Recht auf Verteidigung. Der Gesundheitszustand der beiden bewege sich auf einen Punkt zu, von dem es keine Rückkehr gebe, so die Erklärung. „Es besteht nicht nur ein Risiko für das Leben von Ebru und Aytaç, sondern für das Recht auf Verteidigung an sich. Was unsere beiden Kollegen fordern, ist das Recht auf eine fairen Prozess. Dieses Recht steht allen Bürgerinnen und Bürgern zu. Die Forderung ist daher gerechtfertigt und leicht zu erfüllen. Wer ein Gewissen hat, steht heute in der Verantwortung, Ebru und Aytaç am Leben zu halten. Als Anwaltskammervorsitzende appellieren wir im Bewusstsein dieser Verantwortung an alle zuständigen Stellen.“
DHKP-C-Verfahren
Die Aussagen des Kronzeugen und Überläufers Berk Ercan führten in der Türkei zur Verhaftung von knapp 200 Menschen. Unter ihnen waren neben mehreren Mitgliedern der Musikgruppe Grup Yorum und Mustafa Koçak, der zu lebenslanger Haft verurteilt worden war und am 24. April nach 297 Tagen Hungerstreik verstarb, auch andere linke Anwält*innen wie Selçuk Kozağaçlı. Dem Vorsitzenden des inzwischen verbotenen Anwaltsverbands ÇHD („Çağdaş Hukukçular Derneği) war in Deutschland der Hans-Litten-Preis der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e.V. verliehen worden. In dem Verfahren wegen „Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Vereinigung“ wurde Kozağaçlı im März 2019 zu elf Jahren und drei Monaten Freiheitsstrafe verurteilt.
13,5 Jahre für Timtik, 10,5 Jahre für Ünsal
Ebru Timtik soll weitaus länger im Gefängnis bleiben. Sie wurde zu dreizehn Jahren und sechs Monaten verurteilt, ihre Schwester Barkın Timtik sogar zu fast 19 Jahren. Aytaç Ünsal wurde mit zehneinhalb Jahren Freiheitsstrafe belegt.