Mustafa Koçak, ein politischer Gefangener in der Türkei, ist nach einem 297 Tage andauernden Hungerstreik für einen fairen Prozess gestorben. Im vergangenen Juli hatte ein Gericht in Istanbul Koçak zu einer erschwerten lebenslangen Haft plus 39 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, weil er als vermeintliches Mitglied der „Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front” (DHKP-C) die Tatwaffen für die Geiselnahme vom Istanbuler Justizpalast am 31. März 2015 beschafft haben soll. Die Anklage basierte ausschließlich auf den Falschaussagen des ehemaligen DHKP-C-Mitglieds Berk Ercan, der sich mit widersprüchlichen Beschuldigungen Straffreiheit erhoffte. Beweise für die Mittäterschaft Mustafa Koçaks im Fall der Geiselnahme gab es nicht. Seine Rechtsanwältin Ezgi Çakır hat sich im ANF-Interview zu den Vorgängen geäußert.
Ihr Mandant ist im Hungerstreik gestorben. Was brachte ihn dazu, diese Protestform zu wählen?
Mustafa Koçak wurde ohne irgendeinen Beweis aufgrund der Aussage eines Kronzeugen zum Angeklagten in einem Verfahren wegen der Tötung eines Staatsanwalts, durch das der Staat sein Prestige zurückzugewinnen versuchte. Mustafa sollte durch dieses Komplott die volle Wut des Staates zu spüren bekommen. Wie Mustafa selbst sagte, weigerte er sich, Sündenbock des Staates zu werden. Bertolt Brecht hat gesagt: Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht. Diese Pflicht zum Widerstand verspürte auch Mustafa.
Mustafa Koçak wurde auf der Grundlage der Aussage von Berk Ercan am 23. September 2017 festgenommen. Er wurde in der politischen Abteilung der Istanbuler Polizei zwölf Tage gefoltert. Seine Schwestern wurden mit Vergewaltigung bedroht und er sollte dazu gezwungen werden, Falschaussagen über drei Personen zu unterzeichnen. Mustafa Koçak hielt der Folter stand und gab nicht nach. Er wurde am 4. Oktober 2017 verhaftet.
Wie lief sein Verfahren?
Als das Verfahren vor dem 27. Schwurgerichtshof in Istanbul begann, wurden entlastende Beweise für meinen Mandanten ignoriert, aber alles, was negativ ausgelegt werden kann, ob es etwas mit dem Verfahren zu tun hatte oder nicht, wurde in die Verfahrensakte aufgenommen. Der zweite Kronzeuge Cavit Yılmaz hat von der erlittenen Folter, Bedrohungen und verbotenen Befragungstechniken berichtet und seine Aussagen wieder zurückgenommen. Er war vom MIT, der Staatsanwaltschaft und der Polizei dazu gezwungen worden. Das Gericht wies den Antrag ab.
Das Gericht war zu jedem Zeitpunkt parteiisch und hat seine Absicht, meinen Mandanten zu bestrafen, von Anfang an deutlich gemacht. Sein Recht auf Verteidigung wurde verletzt und er wurde verurteilt, ohne zur Sache angehört zu werden. Die Behandlung meines Mandanten nach seiner Festnahme, das Verfahren und die Strafe widersprechen den Grundsätzen des türkischen Strafrechts.
Mustafa hat dieses Unrecht nicht akzeptiert. Er hat die Wideraufnahme des Verfahrens gefordert, die Feststellung seiner Folterung, die Verurteilung der Folterer und die Wiederanhörung des Kronzeugen Cavit Yılmaz. Dafür ist er in den Hungerstreik getreten. Er hat Gerechtigkeit gefordert.
Konnten denn irgendwelche konkreten Beweise vorgelegt werden? Worauf stützte das Gericht sein Urteil?
In der Gerichtsakte gibt es keine konkreten, objektiven Beweise, nur die Aussage eines Kronzeugen. Berk Ercan hat zu 344 Personen Falschaussagen gemacht. Er wurde selbst mit schweren Waffen gefasst und will auf diese Weise einer Bestrafung entgehen. Der zweite Kronzeuge Cavit Yılmaz hat seine Aussagen unter Folter gemacht und sie wieder zurückgenommen. Die Aussagen eines Zeugen können nicht zur Grundlage eines Urteils gemacht werden. Berk Ercan wurde als „geheimer Zeuge“ angehört. Wie kann man denn ein Urteil alleine mit der Aussage eines geheimen Zeugen begründen? Mustafa wurde ohne jeglichen Beweis verurteilt.
Im Zusammenhang mit diesem Rechtssystem kann man nicht von Gerechtigkeit sprechen. Es handelt sich um faschistisches Feindrecht. Ein Justizsystem, das der faschistischen Ideologie dient, kann nicht für Gerechtigkeit sorgen und führt die Gesellschaft ins Chaos. Das sehen wir heute. Mustafa wurde von der türkischen Justiz und der politischen Macht ermordet.
Am 254. Tag hieß es, dass der Hungerstreik Mustafa Koçaks mit Gewalt unterbrochen wurde. Spielt diese Intervention eine Rolle bei seinem Tod?
Mustafa Koçak wurde am 254. Tag seines Hungerstreiks zwangsernährt. Dabei wurde er an den Händen und Füßen gefesselt. 73 Adern sind dabei geplatzt. Er wurde mit einem Stock misshandelt. Er wurde bedroht und beleidigt. Mustafa stellte sich mit derselben Überzeugung gegen diese Gewalt und setzte seinen Widerstand fort. Die Gerichtsmedizin hat das bestätigt. Ja, die Zwangsernährung spielte eine Rolle bei Mustafas Tod.
Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen und wie ging es ihm damals?
Ich habe ihn zuletzt nach der Zwangsernährung und Folter gesehen. Davor konnte er laufen, danach war er dazu nicht mehr in der Lage. Sein Körper war mit Hämatomen übersäht. Aber er war überzeugt und entschlossen. Danach wurde unter dem Vorwand der Corona-Pandemie der Besuch bei meinem Mandanten unterbunden. Zuletzt konnte ihn ein Kollege vor zehn Tagen nach großen Bemühungen besuchen. Sein Zustand war äußerst schlecht. Er hätte entlassen werden müssen, aber der Entlassungsbericht wurde hinausgeschoben.
Wurde Mustafa Koçak Ihrer Meinung nach ausreichend unterstützt?
Mustafa Koçak wurde durch dieses ungerechte Verfahren, die faschistische Justiz und die Ignoranz der Öffentlichkeit getötet. Viele haben sich aus Angst ferngehalten. Warum erhalten denn die Abgeordneten Immunität? Sie haben ignoriert, wie ein 28-jähriger junger Mann, der allein ein gerechtes Verfahren fordert, vor ihren Augen stirbt. Sie haben vor seiner Ermordung durch die politischen Machthabenden die Augen verschlossen. Außer der freien Presse und den Abgeordneten der HDP hat sich niemand mit dieser Situation befasst. Diejenigen, die geschwiegen haben, haben das Unrecht geschützt.
Diejenigen, die Mustafas Ruf nach Gerechtigkeit nicht gehört haben, können sich jetzt für die Hungerstreikenden Ibrahim Gökçek von Grup Yorum und die Anwält*innen Ebru Timtik und Aytaç Ünsal einsetzen. Sie müssen die legitimen Forderungen unserer Mandant*innen Özgür Karakaya und Didem Akman unterstützen. Es geht nicht darum, ob man den Hungerstreik als Aktionsform unterstützt oder nicht, sie müssen an der Seite der Völker stehen, die Widerstand leisten und Geschichte schreiben.