„Wir fordern kein Mitgefühl, sondern Gerechtigkeit“

Der seit 316 Tagen hungerstreikende Musiker der Band Grup Yorum, Ibrahim Gökçek, hat sich mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit gewandt: „Das Sterben kann nur verhindert werden, wenn unsere Forderungen erfüllt werden.“

Seit mittlerweile 316 Tagen kämpft Ibrahim Gökçek, Bassist der sozialistischen Band Grup Yorum, mit einem Hungerstreik gegen die staatliche Repression gegen seine Gruppe. Mit dem Protest fordert der 39-Jährige die Aufhebung des Konzertverbots von Grup Yorum, ein Ende der Polizeirazzien gegen das Kulturzentrum Idil, die Freilassung aller inhaftierten Bandmitglieder und die Einstellung aller Gerichtsverfahren. Die türkische Regierung wies die Forderungen bisher strikt zurück. Erst müsse der Hungerstreik beendet werden, dann könne man reden, hieß es aus Ankara.

In einer am Dienstag über Twitter verbreiteten Botschaft von Ibrahim Gökçek kündigte dieser jedoch an, dass der Hungerstreik nicht beendet wird. „Unsere Forderungen sind legitim, warum werden sie nicht erfüllt?“, fragte der sichtlich geschwächte Musiker. „Wir haben die größten und bestbesuchten Konzerte gegeben. Wir haben die Lieder des Volkes gemacht und wurden eins mit dem Volk.“  

Seit fünf Jahren darf die Band, auf deren letztes Volkskonzert im Jahr 2015 anderthalb Million Besucher*innen strömten, nicht auftreten. Unter dem Ausnahmezustand, den die AKP-Regierung nach dem missglückten Putsch im Sommer 2016 ausrief, fanden sich die Namen der Bandmitglieder sogar auf einer Terrorliste. Sie werden der Mitgliedschaft in der militanten „Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front“ (DHKP-C) beschuldigt. Die Regierung schrieb Kopfgelder zwischen 300.000 und 1 Million Türkische Lira aus. „Tot oder Lebendig.“ Kopfgelder gegen Kunstschaffende gab es zuletzt im Hitler-Faschismus.

Seit Februar 2019 im Hungerstreik

Im Februar 2019 war Ibrahim Gökçek zusammen mit seiner Bandkollegin Helin Bölek bei einer Razzia im Istanbuler Idil-Kulturzentrum festgenommen worden. Ihren im Gefängnis begonnenen Hungerstreik wandelten beide nach ihrer Haftentlassung im Februar 2020 in ein „Todesfasten“ um, dem Bölek am 4. April mit 28 Jahren erlag. Beim sogenannten Todesfasten nehmen die Beteiligten nur noch Zuckerwasser und Salz zu sich sowie in manchen Fällen Vitamin-B-Präparate, um weiter klar denken zu können.

„Helin ist gestorben, weil sie ihre Lieder singen wollte“, sagte Gökçek. „Wir wollten nur unsere Kunst machen. Außer dem Tod ließen sie uns keinen anderen Weg“, fügte er hinzu und kündigte an: „Unser Widerstand wird ohne konkrete Errungenschaft nicht enden.“ Der Band solle ein Datum und einen Ort nennen, wo sie ein Konzert geben kann. Außerdem soll die Freilassung der inhaftierten Gruppenmitglieder Ali Aracı und Sultan Gökçek erreicht werden. Bei letzterer handelt es sich um die Ehefrau von Ibrahim Gökçek. „Wenn Ihr wollt, dass das Sterben endet, ist dies der einzige Weg. Wir wollen weder Mitgefühl, noch appellieren wir an irgendein Gewissen. Wir fordern Gerechtigkeit. Wir wollen, dass uns Recht widerfährt und die legitimen Forderungen von Grup Yorum erfüllt werden.“

Grup Yorum

Seit ihrer Gründung vor 35 Jahren beteiligt sich Grup Yorum an den sozialen Kämpfen in der Türkei, unterstützt Arbeitskämpfe und positioniert sich klar an der Seite der Völker. In den auf türkischer, kurdischer und arabischer Sprache gesungen Liedern, in denen es um die Unterdrückung der Menschen geht, ruft die Band stets zur Geschwisterlichkeit unter den Völkern, zu Einheit und Gerechtigkeit auf. Ihre Lieder werden bei Streiks, Trauerfällen, Beerdigungen, Demonstrationen und Hochzeiten gespielt. Ihre Popularität und der Rückhalt bei den kämpfenden und unterdrückten Menschen des Landes ist auch der Grund, warum Grup Yorum seit ihrer Gründung 1985 stets Repressionen ausgesetzt wurde.

PKK ruft zum dringenden Handeln für Ibrahim Gökçek auf

Das Komitee für Kultur und Kunst der kurdischen Arbeiterpartei PKK rief am Montag zum dringenden Handeln für Ibrahim Gökçek auf. „Ob drinnen oder draußen, wer Widerstand leistet, darf nicht alleingelassen werden. Bevor es zu weiteren Todesfällen kommt, muss Druck auf die Regierung ausgeübt werden, damit die Forderungen erfüllt werden. Auch unter den gegenwärtigen Bedingungen gibt es dafür verschiedene Methoden. Es reicht aus, nicht gleichgültig zu sein – Widerstand ist unter allen Umständen möglich.“

HBDH: Faschismus schreckt auch in Zeiten von Corona nicht zurück

Auch das kurdisch-türkische Bündnis „Vereinigte Revolutionsbewegung der Völker“ (Halkların Birleşik Devrim Hareketi, HBDH) fordert dringendes Handeln für Ibrahim Gökçek. In einer heute veröffentlichten Erklärung weist das Bündnis auf die „rücksichtslosen Angriffe“ hin, die der türkische Staat auch in Zeiten von Corona in allen Bereichen des Lebens fortsetze - „ob drinnen oder draußen, in der Türkei, Kurdistan, dem Mittleren Osten oder an anderen Orten der Welt.“ Weiter heißt es: „Auch gegen Mitglieder von Grup Yorum, die mit ihrer revolutionären Kunst die Menschenwürde verteidigen, und gegen diejenigen, die mit einem Hungerstreik ein faires Verfahren fordern, geht der Staat mit äußerster Brutalität vor. Erst kürzlich haben sich Helin Bölek und Mustafa Koçak der Karawane der Unsterblichen angeschlossen. Ibrahim Gökçek, der den 316. Tag in Folge die Nahrungsaufnahme verweigert, kann ebenfalls jederzeit gehen. Wir müssen dringend handeln – für Ibrahim und für die politischen Gefangenen. Lasst uns unsere demokratischen und legitimen Rechte in die Hand nehmen und den Widerstand zum Sieg tragen.“