„Der Staat will unsere Kinder an der Pandemie sterben lassen“

Die Mutter des hungerstreikenden inhaftierten Rechtsanwalts Aytaç Ünsal beschuldigt den türkischen Staat, ihren zwangsweise ins Krankenhaus eingewiesenen Sohn bewusst der Corona-Pandemie auszusetzen.

In Istanbul wird weiter die Freilassung der inhaftierten Rechtsanwält*innen Ebru Timtik und Aytaç Ünsal gefordert. Timtik und Ünsal sind als politische Gefangene seit Monaten im Hungerstreik. Trotz amtsärztlich bestätigter Haftunfähigkeit hat das Gericht die Aufhebung der Haftbefehle abgelehnt. Sie befinden sich gegen ihren Willen in verschiedenen Istanbuler Krankenhäusern.

An der heutigen Mahnwache vor dem „Halkalı Kanuni Sultan Süleyman“-Krankenhaus nahm auch Nermin Ünsal teil. Sie ist die Mutter von Aytaç Ünsal und steht ihrem Sohn seit sechs Tagen als Pflegerin zur Seite. Die Bedingungen im Krankenhaus seien schlimmer als im Gefängnis, sagte sie auf der Mahnwache. In dem Krankenhaus würden Covid19-Kranke behandelt und der Gesundheitszustand ihres Sohnes verschlechtere sich zunehmend: „Aytaç befindet sich in totaler Isolation zwischen vier Wänden. Es gibt kein Fenster, das sich öffnen lässt, es gibt keinen Sauerstoff in dem Raum. Vor der Tür stehen zehn Militärpolizisten und ein Wächter. Die Militärpolizisten laufen durch das Krankenhaus, gehen nach draußen und zum Essen und kommen dann wieder herein. Der Wächter sitzt neben ihnen und kommt ständig ins Zimmer. Auch die Reinigungskräfte tragen keine Schutzkleidung, wenn sie in den Raum kommen, das gleiche gilt für das medizinische Personal. Der Staat zielt darauf ab, dass unsere Kinder nicht am Hunger, sondern an der Pandemie sterben.“

Nermin Ünsal befürchtet, dass ihr Sohn zwangsernährt wird. Das habe ihr ein Polizist an dem Tag erklärt, als ihr Sohn gegen seinen Willen ins Krankenhaus gebracht wurde. „Er sagte ganz offen: Es gibt einen Befehl von Innenminister Süleyman Soylu, wir werden intervenieren“, so Nermin Ünsal.

Hintergrund: Der Hungerstreik von Ebru Timtik und Aytaç Ünsal

Ebru Timtik ist als Anwältin beim linken Verband „Rechtsbüro des Volkes“ (türk. Halkın Hukuk Bürosu“) organisiert. Sie befindet sich seit mittlerweile 217 Tagen im sogenannten Todesfasten. Ihr Kollege Aytaç Ünsal verweigert seit 186 Tagen jegliche Nahrungsaufnahme. Beide wurden aufgrund von widersprüchlichen Aussagen des Kronzeugen Berk Ercan zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Die Anschuldigungen dieses Überläufers haben zur Verhaftung von knapp 200 Menschen geführt. Sie alle wurden im Komplex der Verfahren gegen vermeintliche Angehörige der DHKP-C nach Terrorparagrafen verurteilt. Unter ihnen sind auch mehrere Mitglieder der Musikgruppe Grup Yorum und Mustafa Koçak, der zu lebenslanger Haft verurteilt worden war und vergangenen April im Hungerstreik an den Folgen einer Zwangsernährung gestorben ist.