Im Istanbuler Bezirk Bakirköy hat am Sonntag eine weitere Kundgebung für die inhaftierten Rechtsanwält*innen Ebru Timtik und Aytaç Ünsal stattgefunden. Seit Monaten sind die Jurist*innen mit der Forderung nach einem gerechten Verfahren im Hungerstreik, ihr Zustand ist äußerst kritisch. Doch trotz festgestellter Haftunfähigkeit durch die Gerichtsmedizin wurde ein Antrag auf Freilassung abgelehnt. Seit Donnerstag befinden sich die beiden zudem gegen ihren Willen in einem Krankenhaus. Es droht eine Zwangsernährung, die tödliche Folgen haben könnte.
Die heutige Kundgebung fand wieder auf dem Platz vor dem staatlichen Krankenhaus „Dr. Sadi Konuk“ statt, in dem die inzwischen auf 35 Kilogramm abgemagerte Ebru Timtik festgehalten wird. Aufgerufen hatte der „Widerstandsrat“, unter den zahlreichen Teilnehmenden waren neben Angehörigen von Timtik auch Rechtsanwält*innen der Vereinigungen ÇHD und ÖHD, Mitglieder des Istanbuler Provinzverbands der Demokratischen Partei der Völker (HDP) und der Gefangenenhilfsorganisation TAYAD sowie Aktivistinnen der Initiative der Friedensmütter.
Ebru Timtik ist als Anwältin beim linken Verband „Rechtsbüro des Volkes“ (türk. Halkın Hukuk Bürosu“) osrganisiert. Sie befindet sich seit mittlerweile 213 Tagen im sogenannten Todesfasten. Ihr Kollege Aytaç Ünsal verweigert seit 182 Tagen jegliche Nahrungsaufnahme. Beide wurden aufgrund von widersprüchlichen Aussagen des Kronzeugen Berk Ercan zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Die Anschuldigungen dieses Überläufers haben zur Verhaftung von knapp 200 Menschen geführt. Sie alle wurden im Komplex der Verfahren gegen vermeintliche Angehörige der DHKP-C nach Terrorparagrafen verurteilt. Unter ihnen sind auch mehrere Mitglieder der Musikgruppe Grup Yorum und Mustafa Koçak, der zu lebenslanger Haft verurteilt worden war und vergangenen April an den Folgen eines Hungerstreiks gestorben ist.
Verteidigung des Volkes auf der Anklagebank
Nach Angaben von Volkan Çeşme vom „Widerstandsrat“ handelt es sich um insgesamt 18 linke Anwältinnen und Anwälte, die im Rahmen des sogenannten DHKP-C-Verfahrens angeklagt waren und von denen allein 15 zu insgesamt 159 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden sind. Seiner Auffassung nach ging es in dem Prozess nicht um angeblich „verbotene Ansichten“ oder irgendwelche vermeintlichen Straftaten. „Es war die Verteidigung an sich, die auf der Anklagebank saß. Ob in Gezi oder in Soma, im Fall von Hasan Ferit Gedik oder Dilek Doğan – diese 18 Juristinnen und Juristen haben das mittellose Volk verteidigt, dem Unrecht angetan wurde. Mit ihrer Verurteilung sollte die Verteidigung des Volkes zerschlagen werden.“ Çeşme wies zudem darauf hin, dass sowohl Timtik als auch Ünsal eine künstliche Ernährung ausdrücklich abgelehnt hätten, dennoch nach wie vor im Krankenhaus festgehalten werden. „Dies ist ein weiterer Verstoß gegen geltendes Recht, der von der Justiz ignoriert wird.“
Volkan Çeşme
Esengül Demir: Politische und juristische Monstrosität
Esengül Demir vom HDP-Parteirat sagte, die Reaktion der Justizbehörden gleiche der der drei Affen von Nikko: „Sie sehen nichts, sie hören nichts und sie sagen nichts, obwohl der Zustand von Ebru und Aytaç lebensbedrohlich ist. Es ist eine politische und juristische Monstrosität. Wir wollen, dass die beiden leben. Sie müssen freigelassen werden, damit eine medizinische Behandlung im Sinne ihres erklärten Willens erfolgen kann“, forderte Demir und sprach ihre Solidarität mit dem Gerechtigkeitskampf der beiden Anwält*innen aus.
Esengül Demir
Onkel von Timtik: Kassationshof soll endlich entscheiden
Yıldırım Deniz, ein Onkel von Ebru Timtik, forderte den Kassationshof auf, im Fall seiner Nichte und ihres Kollegen Aytaç Ünsal endlich eine Entscheidung zu finden. Als oberstes Gericht der Türkei überprüft der Kassationshof, ob ein Urteil oder Entscheid, ergangen in letzter Instanz (nach Einleitung der gewöhnlichen Rechtsmittel für eine Berufung oder einen Einspruch), gegen das Gesetz verstößt oder eine Rechtsregel missachtet. Ist dies der Fall, annulliert der Kassationshof die angefochtene Entscheidung und verweist die Sache an eine andere Gerichtsbarkeit, welche die Sache dann erneut zum Grunde behandelt. Im Fall von Timtik und Ünsal handelt es sich um ein Eilverfahren, dennoch lässt sich das Gericht bei seiner Urteilsfindung ungewöhnlich lange Zeit. „Offenbar wollen die Richter den Tod der beiden abwarten, um zu entscheiden, dass sie in einem äußerst unfairen Prozess verurteilt wurden“, sagte Deniz.
Yıldırım Deniz
Zwei Festnahmen
Zum Ende der Kundgebung kam es zu einem Polizeiübergriff auf die Versammlung. Unter Anwendung von Gewalt wurden Volkan Çeşme und Erkan Munar festgenommen und in das örtliche Polizeipräsidium verschleppt. Was ihnen zum Vorwurf gemacht wird, ist nicht bekannt.