Türkei: Migrations-NGO wegen „Terrorismusnähe“ verboten

GÖÇİZDER dokumentiert die Folgen von Zwangsvertreibung innerhalb der Türkei und setzt sich unter anderem für eine Aufarbeitung der Dorfverbrennungen in Kurdistan ein. Gegen das Gerichtsurteil will der Verein notfalls auch vor den EGMR ziehen.

GÖÇİZDER

Ein Gericht in der Türkei hat den Migrationsverein GÖÇİZDER verboten, weil die Organisation angeblich Verbindungen zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) hat. Der Verein will sich gegen das Urteil vor dem Obersten Berufungsgericht in Ankara zur Wehr setzen, wie der Vorstand am Donnerstag berichtete. Notfalls wolle GÖÇİZDER auch vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ziehen.

Die Istanbuler Staatsanwaltschaft argumentierte vor Gericht, dass gegen Mitglieder von GÖÇİZDER Verfahren wegen des Vorwurfs liefen, Fördermittel der Europäischen Union und der Vereinten Nationen für „PKK-Propaganda“ missbraucht zu haben „Systematisch“ hätte der Migrationsverein die Gelder aus dem Ausland für „Broschüren und Seminare“ verwendet, um im Einklang mit der PKK zu handeln. Das Gericht folgte am Mittwoch dem Antrag der Anklage und ordnete die Auflösung des Vereins an.

Vereinsmitglieder vom Terrorvorwurf freigesprochen

Besagtes „Terror“-Verfahren gegen GÖÇİZDER hatte es tatsächlich gegeben – im Juni 2022 waren bei einer Großrazzia gegen den Verein 22 Mitglieder wegen angeblicher PKK-Mitgliedschaft festgenommen und 16 von ihnen über mehrere Monate inhaftiert worden. Im vergangenen Februar endete der Prozess allerdings mit Freisprüchen – die von der Staatsanwaltschaft gefordert worden waren. Lediglich ein Vereinsmitglied, das erst im Verlauf des Prozesses mitangeklagt wurde, erhielt wegen vermeintlicher PKK-Propaganda eine zur Bewährung ausgesetzte Haftstrafe.

Transparent im GÖÇİZDER-Büro mit Bildern ihrer 2022 verhafteten Mitglieder © MA/via Evrensel

Vorwurf: Politische Entscheidung

GÖÇİZDER versteht sich als Organisation, die sich für die Förderung der gesellschaftlichen Solidarität mit zur Flucht gezwungenen Gruppen einsetzt und die Forderungen dieser Gruppen nach einem menschenwürdigen Leben unterstützt. Der im Winter 2016/2017 gegründete Verein dokumentiert die Folgen von Zwangsvertreibung innerhalb der Türkei und setzt sich unter anderem für eine Aufarbeitung der Dorfverbrennungen in Kurdistan seit den 1990er Jahren ein. Ziel ist eine Rückkehr der Vertriebenen in ihre Dörfer. 

„Dieses Engagement wurde schon länger von der Justiz skandalisiert, diffamiert und kriminalisiert“, sagte die GÖÇİZDER-Ko-Vorsitzende Kamile Kandal bei einer Pressekonferenz in Istanbul. Es sei eine „durch und durch antidemokratische und politische Entscheidung”, den Verein zu schließen, betonte sie. „Das Vereinsverbot bedeutet einen Rückschritt für die Demokratie im Land, das Gerichtsurteil stellt einen schweren Schlag gegen den Kampf um Menschenrechte dar.“ Eine NGO wie GÖÇİZDER zu verbieten, sei der „gravierendste Indikator“ für den Umgang einer zersetzten Justiz mit den Rechten von Migrant:innen und Geflüchteten.

Doch man wolle sich nicht unterkriegen lassen. „Gerade in einer Geografie, in der Krieg, Ausbeutung und Armut zur alltäglichen Realität geworden sind, in der Millionen von Menschen gewaltsam vertrieben und zu Flüchtlingen gemacht werden, müssen wir für eine Welt kämpfen, in der Migrant:innen, Flüchtlinge und Einheimische gleichberechtigt zusammenleben und in der alle ethnischen und religiösen Gruppen und sozialen Schichten frei leben können. Trotz der Repression und der Vereinsschließlung werden wir weiter für die Rechte von Vertriebenen und Geflüchteten kämpfen“, so Kandal.


Kafkaeske Anklage: Im „Terror“-Verfahren gegen die Vereinsmitglieder von GÖÇİZDER wurden Berichte, die die Organisation im Rahmen ihrer Tätigkeit erstellt hat und die bei Durchsuchungen der Büroräume beschlagnahmt wurden, als Beweismittel in die Anklageschrift aufgenommen. Darin wurde behauptet, dass die Berichte des Vereins – etwa der Bericht über Menschenrechtsverletzungen und die Erfahrungen von Frauen während der türkischen Militärbelagerung sowie Ausgangssperren und Zwangsmigration in den Jahren 2015-2016 in kurdischen Städten sowie Berichte über Fluchtgeschichten von Nichtmuslimen und Kurd:innen aus den 1990er Jahren – „in Übereinstimmung mit den Zielen und Aktivitäten der PKK/KCK erstellt wurden, Teile dieser Berichte Propaganda für diese Organisation enthalten und dem Zweck der Organisation dienen, Massenpropaganda zu betreiben und Sympathisanten aktiv zu halten“. Darüber hinaus hieß es in der Anklageschrift, dass Berichte, in denen Rechtsverletzungen festgestellt wurden, „darauf abzielen, bei den Bürgern kurdischer Herkunft Hassgefühle und Ablehnung gegenüber unserem Staat zu wecken“. Durch die Präsentation dieser Berichte bei zivilgesellschaftlichen Aktivitäten im Ausland sei versucht worden, die Türkei international in eine schwierige Lage zu bringen.