Späte Gerechtigkeit für Veli Saçılık

Veli Saçılık verlor einen Arm, als türkische Sicherheitskräfte vor 21 Jahren die Gefängnismauern der Vollzugsanstalt Burdur mit Bulldozern einreißen ließen. Seitdem kämpfte er gegen staatliche Forderungen, für die dabei entstandenen Schäden zu haften.

Den Soziologen Veli Saçılık kennen viele Menschen auch als „einarmigen Aktivisten“ von der Yükselstraße in Ankara, wo über Jahre die Aktion „Wir wollen unsere Arbeit zurück“ stattfand. Als 17-Jähriger hatte er 1995 in Ankara Flugblätter verteilt und landete für drei Monate im Gefängnis. Drei Jahre später wurde er deshalb unter dem Vorwurf der Unterstützung einer illegalen Organisation zu einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt. Am 5. Juli 2000, Saçılık war damals in einer Strafvollzugsanstalt in der Mittelmeerprovinz Burdur inhaftiert, stürmten schwerbewaffnete Sicherheitskräfte wegen eines behaupteten „Aufstands“ das Gefängnis. Das Ziel war die Gemeinschaftszelle der politischen Gefangenen. Zuerst wurden Tränengasgranaten in die Zelle geworfen, danach pferchte man die 61 Insassen in dem etwa 30 bis 40 Quadratmeter großen Raum zusammen. Anschließend ließen Polizei und Anstaltsleitung die Gefängnismauern mit Bulldozern einreißen. Veli Saçılık verlor dabei seinen rechten Arm. Er stand dem Fenster zum nächsten und hatte versucht, frische Luft zuschnappen.

Repression und Misshandlungen gaben Anlass zum Aufbegehren

Der vermeintliche Aufstand, mit dem der Überfall begründet wurde, war nichts anderes als Widerstand gegen die massive Repression und Folter in dem Gefängnis. Seit geraumer Zeit weigerten sich die politischen Gefangenen deshalb, an ihren Gerichtsverhandlungen teilzunehmen. Erst die Repression und Misshandlungen gaben also den Anlass zum Aufbegehren. Zudem gab es in Burdur und anderen Haftanstalten bereits erste Proteste gegen die Einführung von Typ-F-Gefängnissen. Bis zur Eröffnung dieser Haftanstalten mit einem Zellensystem mit Einzel- und kleineren Gemeinschaftszellen wurden Häftlinge in der Türkei in kasernenähnlichen Räumen mit 20 bis 100 Personen untergebracht. Dies bot in erster Linie politischen und vor allem linken Bewegungen die Möglichkeit, ihren organisatorischen Zusammenhalt auch im Gefängnis aufrechtzuerhalten. Der Vorfall in Burdur gilt ohnehin als Vorbereitung auf die folgende „Operation Rückkehr ins Leben“. Am 20. Oktober 2000 starteten 1.150 politische Gefangene in 48 Gefängnissen der Türkei einen Hungerstreik gegen die geplanten Typ-F-Gefängnisse, weil die Regierung jegliche Proteste dagegen ignorierte oder unterdrückte. Nach 45 Tagen wurde der Hungerstreik in ein Todesfasten umgewandelt. In der Nacht vom 18. auf den 19. Dezember 2000 stürmten 8.500 schwerbewaffnete Soldaten und Beamte der Militärpolizei, darunter auch speziell ausgebildete Spezialbataillone und Eliteeinheiten der Geheimdienste, 20 Haftanstalten. Mindestens 30 Gefangene und zwei Soldaten, die ihren Wehrdienst leisteten, wurden getötet, mehrere hundert zum Teil schwerverletzt. Insgesamt 34 Menschen gelten bis heute als offiziell „verschwunden“.

Arm auf Müllhalde geworfen

Wieder in Freiheit, begann der juristische Kampf von Veli Saçılık um Gerechtigkeit. Es dauerte Jahre, bis er sich vor Gericht Schmerzensgeld für den Verlust eines Körperteils erstreiten konnte. Den Arm, der bei dem Polizeieinsatz aus seiner Schulter gerissen wurde, hatten Beteiligte der Zellenstürmung auf eine Müllhalde geworfen. Er konnte zwar gefunden werden, aber im Maul von einem Hund, der einen Teil bereits abgekaut hatte. Mit Mindestens einem Dutzend Verfahren musste sich Saçılık später auseinandersetzen, die die türkischen Behörden gegen ihn angestrengt hatten. 2014 entschied der Staatsrat, dass er das Schmerzensgeld zurückzahlen müsse, weil die Gefangenen die Operation selbst provoziert hätten. Noch im selben Jahr klagte das Justizministerium, um Saçılık für die beim Überfall im Gefängnis Burdur entstandenen Schäden haften zu lassen. Auch wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Türkei 2015 in beiden Verfahren zu Gunsten Saçılıks verurteilte, mussten noch weitere sechs Jahre vergehen, bis auch der türkische Kassationshof entschied, dass die „Opfer der Einsätze nicht für die in der Justizvollzugsanstalt entstandenen Schäden verantwortlich gemacht können”. Saçılık stellt das Urteil als eine späte Genugtuung dar.

KHK-Opfer erstreitet Gerechtigkeit

„Damals war es eine Mauer, unter der wir begraben wurden. Heute ist es die Gerechtigkeit, die auf den Verantwortlichen lastet. Es war aber auch symbolisch von Bedeutung, dass Cenk Yiğiter den Fall vor Gericht gewonnen hat”, so Saçılık. Yiğiter ist Jurist und gehört wie sein Mandant zu mehr als 150.000 Staatsbediensteten und Beamten, die nach dem Putschversuch 2016 im Rahmen von Notstandsdekreten (KHK) entlassen wurden. Der Fall Saçılık am Kassationshof ist das erste Verfahren von Yiğiter als Rechtsanwalt. Bis 2016 war der Akademiker wissenschaftlicher Mitarbeiter der juristischen Fakultät an der Universität Ankara. Mit dem Verlust seiner Stelle wurde ihm die Zulassung zum Pflichtpraktikum an einer Anwaltskanzlei verweigert. „Jetzt beginnt für uns beide der Kampf um Gerechtigkeit für die KHK-Entlassenen“, sagt Saçılık.