Ankara: 30 Aktivisten wegen Zwangsverwalter-Protesten angeklagt

Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara hat Anklage gegen 30 Aktivisten erhoben, die sich an Protesten gegen die Ernennung von Zwangsverwaltern in kurdischen Rathäusern beteiligt haben. Bei einer Verurteilung drohen ihnen bis zu drei Jahre Haft.

Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara hat Anklage gegen 30 Aktivist*innen erhoben, denen im Zusammenhang mit ihrer Teilnahme an Protesten gegen die Ernennung von Zwangsverwaltern in HDP-geführten Rathäusern ein vermeintlicher Verstoß gegen das Versammlungsgesetz vorgeworfen wird. Die Proteste am 5. September 2019 richteten sich gegen die Absetzung von Adnan Selçuk Mızraklı, Ahmet Türk und Bedia Özgökçe Ertan. Die im vergangenen März gewählten Oberbürgermeister*innen der drei kurdischen Hochburgen Amed (Diyarbakir), Mêrdîn (Mardin) und Wan (Van) waren am 19. August abgesetzt und durch Gouverneure, die als kommissarische Verwalter fungieren sollen, ersetzt worden. Inzwischen wurden insgesamt 38 Ko-Bürgermeister*innen der Demokratischen Partei der Völker (HDP) ihres Amtes enthoben. Gegen 27 von ihnen erging Haftbefehl, 25 Bürgermeister*innen sitzen im Gefängnis. In sechs Kommunen konnten die gewählten Bürgermeister*innen ihr Amt gar nicht erst antreten, weil der Wahlausschuss ihnen die Anerkennung verweigerte. An ihrer Stelle wurden die unterlegenen AKP-Kandidaten ins Amt gehievt.

Anklage fordert bis zu drei Jahre Haft

Der Prozess gegen die in Ankara angeklagten Aktivist*innen wird am 15. April vor der 10. Strafkammer des Landgerichts der türkischen Hauptstadt eröffnet. Konkret wird ihnen zum Vorwurf gemacht, unerlaubt einen Sitzstreik durchgeführt und Widerstand gegen Sicherheitskräfte geleistet zu haben. Bei den Betroffenen handelt es sich unter anderem um die beiden ehemaligen Vorsitzenden des HDP-Provinzverbands in Ankara, Zeyno Bayramoğlu und Hüseyin Gevher, sowie den per Notstandsdekret aus dem öffentlichen Dienst entlassenen Soziologen Veli Saçılık. Der Akademiker verlor in der Nacht vom 18. auf den 19. Dezember 2000 im Zuge der sogenannten „Operation Rückkehr ins Leben“ einen Arm, als die Polizei die Gefängnismauern der Haftanstalt von Burdur mit Bulldozern einreißen ließ. Saçılık gehörte zu den politischen Gefangegen, die damals mit einem Hungerstreik versuchten, die Einführung von Isolations- (sog. F-Typ-) Gefängnissen zu verhindern. Bei einer Verurteilung drohen ihm und seinen Mitangeklagten Freiheitsstrafen zwischen anderthalb und drei Jahren.

Vorwürfe gegen abgesetzte Bürgermeister*innen

Die HDP-Politiker*innen Adnan Selçuk Mızraklı, Ahmet Türk und Bedia Özgökçe Ertan waren am 31. März 2019 mit 63, 56 und 54 Prozent der Stimmen als deutliche Sieger aus den Kommunalwahlen hervorgegangen. In mehreren Ermittlungsverfahren, die auf Betreiben des Innenministeriums eingeleitet wurden, wird ihnen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation” und „Terrorpropaganda” vorgeworfen. Konkret sollen sie ihre Posten für die Unterstützung von Aktivitäten der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) genutzt haben. Unter anderem hätten sie angeblich versucht, öffentliche Gelder an die PKK zu leiten. Zudem werden sie beschuldigt, mit dem Prinzip der Doppelspitzen, das die HDP auf allen Ebenen verfolgt, auf Anordnung der PKK eine nicht verfassungsmäßige politische Struktur eingeführt zu haben, die vom Ganzen des Landes abweicht. Desweiteren seien in den Verwaltungen Personen eingestellt worden, die zuvor wegen Terrorvorwürfen aus dem Staatsdienst entlassen wurden. Die Ermittlungsverfahren gegen die abgesetzten Bürgermeister*innen gehen teilweise auf ihre Zeit als Abgeordnete in früheren Jahren zurück. Bei dem Vorgehen der Regierung handelt es sich um eine altbewährte Strategie, die Opposition faktisch abzuschaffen.

HRW: Wahlsiege der HDP de facto annuliert

Auf das berechnende Verhalten der AKP-Regierung machte kürzlich auch Human Rights Watch (HRW) aufmerksam. In einem am Freitag veröffentlichten Bericht prangert die Menschenrechtsorganisation das massive Vorgehen des türkischen Staates gegen die HDP an und bezeichnet die staatliche Repression als einen Versuch, die Opposition zu ersticken. „Die Amtsenthebungen, Inhaftierungen und Anklagen gegen lokale kurdische Politiker, denen ohne zwingenden Grund oder Beweise kriminelle Aktivitäten vorgeworfen werden, scheint der bevorzugte Weg der türkischen Regierung zu sein, um die politische Opposition auszulöschen“, sagte Hugh Williamson, Direktor der Abteilung Europa und Zentralasien von Human Rights Watch. Das Vorgehen gegen die HDP stünde nicht im Zusammenhang mit legitimen Bemühungen zur Terrorismusbekämpfung, sondern trete die Rechte der gewählten Bürgermeister*innen und der 1,8 Millionen Wähler*innen mit Füßen.

Anstieg der Repression gegen HDP seit Invasion in Rojava

HRW beklagt zudem, dass die türkische Regierung das Funktionieren der Kommunalpolitik in den kurdischen Regionen des Landes mit der Einsetzung von Zwangsverwaltern massiv torpediere. Außerdem werde das passive und aktive Wahlrecht de facto abgeschafft. „Die Ergebnisse der Kommunalwahlen vom 31. März in den bevölkerungsreichsten Städten im Südosten und in den östlichen Provinzen wurden mit der Absetzung der Bürgermeister praktisch annuliert.” Insbesondere seit Beginn der türkischen Invasion in Nordsyrien sei ein drastischer Anstieg der Repression gegen die HDP zu verzeichnen.