Dutzende Festnahmen bei Protesten gegen Zwangsverwaltung
In Amed und Ankara wurden Proteste gegen die Zwangsverwaltung kurdischer Großstädte von der Polizei angegriffen. Es kam zu Dutzenden Festnahmen.
In Amed und Ankara wurden Proteste gegen die Zwangsverwaltung kurdischer Großstädte von der Polizei angegriffen. Es kam zu Dutzenden Festnahmen.
Erneut sind in der Türkei Proteste der Demokratischen Partei der Völker (HDP) gegen die Einsetzung von Zwangsverwaltern anstelle der demokratisch gewählten Oberbürgermeister*innen von Amed (Diyarbakir), Wan (Van) und Mêrdîn (Mardin) angegriffen worden. In Ankara ging die Polizei zunächst auf dem Sakarya-Platz gewaltsam gegen die Teilnehmer*innen einer Kundgebung vor. Dabei wurden 22 Personen festgenommen, darunter auch der per Notstandsdekret aus dem öffentlichen Dienst entlassene Soziologe und Aktivist Veli Saçılık. Der Akademiker verlor in der Nacht vom 18. auf den 19. Dezember 2000 im Zuge der sogenannten „Operation Rückkehr ins Leben“ einen Arm, als die Polizei die Gefängnismauern der Haftanstalt von Burdur mit Bulldozern einreißen ließ. Saçılık gehörte zu den politischen Gefangegen, die damals mit einem Hungerstreik versuchten, die Einführung von Isolations- (sog. F-Typ-) Gefängnissen zu verhindern.
Zu 20 weiteren Festnahmen in Ankara ist es vor dem Rathaus im Bezirk Çankaya gekommen. Dort hatte sich ebenfalls eine Gruppe von Aktivist*innen versammelt, um ihren Protest gegen die Zwangsverwaltung in Nordkurdistan zum Ausdruck zu bringen. Unter den Festgenommenen befinden sich unter anderem die Ko-Vorsitzende des HDP-Provinzverbands Zeyno Bayramoğlu, Betül Koca aus dem HDP-Vorstand, die Aktivistinnen Aslı Viyan Saraç, Fatma Önen, Dilan Karaer und Hasret İrem Korucu sowie die Ko-Sprecherin des HDK in Ankara Fatma Kılıçarslan.
Menschenkette in Amed angegriffen
In der nordkurdischen Metropole Amed ging die Polizei gegen Teilnehmer*innen einer Menschenkette vor und nahm die beiden Ko-Bürgermeister von Licê, Tarık Mercan und Ruken Yılmaz, Sevim Coşkun und Şehriban Zohurli, zwei Stadtratsmitglieder der HDP in Amed, sowie drei weitere Personen, deren Namen derzeit noch nicht bekannt sind, fest. Wie es vor Ort heißt, wurden alle Betroffenen zu einer gesundheitlichen Untersuchung in das staatliche Krankenhaus Selahattin Eyyubi gebracht.
Gewerkschaftsbüro gestürmt
Etwa zeitgleich stürmten Antiterroreinheiten in Amed die Räumlichkeiten der Gewerkschaft für Gesundheit und Soziales (SES). Als Grund wurde ein Transparent mit der Aufschrift „Hände weg von unserem Willen” herangezogen, das die Gewerkschaft als Ausdruck ihres Protest gegen den Einsatz von Statthaltern anstelle der demokratisch gewählten Bürgermeister am Gebäude angebracht hatte. Ob es dort ebenfalls zu Festnahmen gekommen ist, ist derzeit noch unklar.
Bürgermeister durch staatliche Zwangsverwalter ersetzt
Am 19. August sind die Ko-Bürgermeister*innen der kurdischen Großstädte Amed, Wan und Mêrdîn auf Betreiben des Innenministeriums abgesetzt und durch staatliche Zwangsverwalter ersetzt worden. Die AKP-Regierung rechtfertigt die Entmachtung der demokratisch gewählten Politiker*innen Adnan Selçuk Mızraklı, Bedia Özgökçe Ertan und Ahmet Türk mit vagen Terrorismus-Vorwürfen. In einer Stellungnahme des Innenministeriums sind verschiedene Verdächtigungen aufgeführt. So ist etwa davon die Rede, dass die Oberbürgermeister*innen kommunale Gelder an die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) weitergeleitet hätten. Zudem werden sie beschuldigt, mit dem System der genderparitätischen Doppelspitze bei der HDP, wonach jeweils ein Mann und eine Frau das Bürgermeisteramt gemeinsam ausüben, unbefugte Personen in offizielle Positionen gebracht und auf Anordnung der PKK eine nicht verfassungsmäßige politische Struktur eingeführt zu haben, die nicht mit den offiziellen politischen Regeln und Vorschriften zu vereinbaren sei.
Die HDP erklärte, dass die Begründung für die Zwangsverwaltung vollkommen erfunden sei. Die Regierung könne es nicht ertragen, dass die Korruption und Verschwendung von öffentlichen Geldern der ehemaligen Treuhänder ans Tageslicht kommt.
Bereits nach dem versuchten Militärputsch vom 15. Juli 2016 waren 98 der 102 kurdischen Kommunalverwaltungen per Notstandsdekret unter staatliche Treuhänderschaft gestellt worden. 40 der abgesetzten Bürgermeister*innen sitzen bis heute in Untersuchungshaft. Bei den Kommunalwahlen Ende März gelang es der HDP, einige der usurpierten Gemeinden zurückzugewinnen. Seitdem hat sie Einblick in die Haushaltsführung der Statthalter. Alle drei Stadtverwaltungen, denen nun Zwangsverwalter zugewiesen wurden, waren vor fünf Monaten mit Schuldenbergen in dreistelliger Millionenhöhe übernommen worden. Die Ausgaben der Treuhänder sind kaum nachzuvollziehen. So wurde in Amed beispielsweise für den Luxusumbau eines Büroraums über 330.000 Euro ausgegeben. In Mêrdîn sollen in drei Monaten 25.000 Euro für Kaffee, Trockenfrüchte und Nüsse bezahlt worden sein.