Schutzsuchende werden Ziel aller Formen von Gewalt und Ausbeutung

Sinan Özaraz, Präsident der Anwaltskammer von Wan, warnt vor einer massiven Straflosigkeit bei Verbrechen gegen Schutzsuchende. Vergewaltiger, Erpresser, Ausbeuter und Schläger können auf das Wegschauen der türkischen Behörden zählen.

Das türkische Staatsgebiet wurde mit Hilfe der EU zu einem Bollwerk der Abschottung gegen Schutzsuchende hochgerüstet. Regelmäßig sterben Menschen an der mitten durch Kurdistan gezogenen türkischen Ostgrenze. Besonders dramatisch ist die Situation in Wan, wo viele Geflüchtete aus Ostkurdistan, dem Iran und Afghanistan ankommen. Sie sind schutzlos der Gewalt von Sicherheitskräften, Armee und Zivilpersonen ausgesetzt. Sinan Özaraz, Präsident der Anwaltskammer von Wan, weist auf die Straflosigkeit hin, wenn Schutzsuchende vergewaltigt, belästigt, erpresst, beraubt oder geschlagen werden. Dies ebne neuen Übergriffen den Weg. Özaraz spricht von einer Behandlung als Menschen „zweiter Klasse“.

Afghanistan, das vom Westen den Taliban überlassen wurde, ist eines der Länder mit der höchsten Quote an Menschen, die flüchten müssen. Tausende von Menschen aus Afghanistan kommen jedes Jahr in Wan an und versuchen von dort aus, durch Nordkurdistan und die Türkei in europäische Länder zu gelangen. Dabei sind Schutzsuchende zahlreichen Rechtsverletzungen ausgesetzt. Sie werden gefoltert, vergewaltigt und schikaniert, sowohl von Soldaten an der Grenze als auch von Menschenhändlern. Raub und Schläge sind an der Tagesordnung, die Zahl der im Hochgebirge durch Wetter oder extralegalen Hinrichtungen und willkürlichen Beschuss Getöteten lässt sich höchstens erahnen. Immer wieder werden Fälle von Geflüchteten bekannt, die an der Grenze zu Tode gefoltert werden.

Schutzsuchende, denen es gelingt, die Grenze zu überqueren, sind anschließend mit ähnlichen Praktiken konfrontiert. Kürzlich wurde bekannt, dass eine geflüchtete Frau von Soldaten vergewaltigt wurde. Am 7. Januar wurden zwei Flüchtlinge an einem Polizeikontrollpunkt auf der Straße Wan-Qerqelî getötet. Während einige Quellen berichten, dass das Fahrzeug von Kugeln durchsiebt worden sei, behauptete die Polizei, das Fahrzeug sei gegen ein gepanzertes Fahrzeug und eine Mauer gefahren. Schutzsuchende haben in der Türkei praktisch keine Möglichkeit, ihre Rechte einzufordern.

Verhängte Strafen gegen Täter sind gering“

Der Präsident der Anwaltskammer von Wan sagt zu der Situation: „Schutzsuchende kommen vor allem über Wan. Mit den neuen Grenzmauern haben sich die Überquerungsrouten geändert. Die Flüchtlinge bewegen sich daher durch noch schwierigeres Gelände und sind mit vielen Problemen konfrontiert. Wenn sie hier ankommen und aufgegriffen werden, werden sie in Abschiebelager gesperrt. Auch Vergewaltigungen und Morde kommen während dieser Prozeduren vor. Die in diesen Fällen eingeleiteten Ermittlungen werden langsam durchgeführt, und die verhängten Strafen sind gering.“ In der Türkei gibt es de facto kein Recht auf Asyl, da der türkische Staat die Genfer Flüchtlingskonvention nur mit geographischem Vorbehalt ratifiziert hat und so nur etwaige Flüchtlinge aus Europa überhaupt das Recht haben, einen Antrag zu stellen.

Nur weil ein Auto nicht anhält, darf man es nicht mit Kugeln durchsieben“

Özaraz spricht von einer unmenschlichen Behandlung von Schutzsuchenden und fährt fort: „Geflüchtete werden in Abschiebelagern bestimmten Praktiken unterworfen. Sie können keinen Rechtsbeistand erhalten, weil sie die Sprache nicht sprechen. Sie können keinen wirksamen und rechtzeitigen Rechtsbeistand in Anspruch nehmen. Es gibt viele Fälle, in denen die Polizei die Schutzsuchenden regelrecht ins Visier nimmt. Auch das Eingreifen der Polizei muss Grenzen haben. Nur weil ein Auto nicht anhält, darf man es nicht mit Kugeln durchsieben. Das ist rechtswidrig. Hier wird direkt das Recht auf Leben angegriffen.“

Der Tod von zwei Schutzsuchenden

Özaraz berichtet weiter über den Tod der zwei Schutzsuchenden auf der Straße von Wan nach Qerqelî. Soweit bisher bekannt, hatte die Polizei ein Fahrzeug mit Geflüchteten mit Kugeln durchsiebt. Özaraz berichtet: „Wir fuhren zum Tatort und stellten Nachforschungen an, aber als wir dort ankamen, hatten sie die Flüchtlinge bereits weggebracht. Zwei Leichen wurden dort für mehrere Stunden liegen gelassen. Nachdem wir das Fahrzeug untersucht hatten, sprachen wir mit den Behörden. Nach den uns vorliegenden Informationen wurde das Fahrzeug von der Polizei dicht verfolgt, und der Tod ereignete sich während der Polizeiintervention bei der Verfolgung. Ein Autopsiebericht liegt jedoch noch nicht vor. Wir können nichts Eindeutiges sagen. Da die Ermittlungsakte Mängel aufweist, konnten wir den wahren Sachverhalt nicht klären.“

Geheimhaltungsverfügung in Vergewaltigungsverfahren

Özaraz berichtet auch über zwei Soldaten, die in Serav (tr. Saray) eine geflüchtete Frau vergewaltigt haben. In dem Verfahren gegen sie wurde eine Geheimhaltungsverfügung verhängt. Der Anwalt führt aus: „Solche Vorfälle ereignen sich auf der Transitstrecke. Vor kurzem ereignete sich ein solcher Vorfall im Bezirk Saray. Wir waren mit dem Vorfall befasst, konnten aber aufgrund der Geheimhaltungsverfügung keine eindeutigen Informationen erhalten. Wir glauben nicht, dass die Geheimhaltungsverfügung bei einem solchen Vorfall getroffen wurde, um zu verhindern, dass etwas verdunkelt wird. Sie wurde verhängt, um Informationen der Öffentlichkeit vorzuenthalten. In diesem Fall dient die Geheimhaltungsverfügung lediglich dem Zweck, Informationen vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Aufgrund des Geheimhaltungsverfügung können wir die Akte nicht einsehen. Die Schwere des Vorfalls ist wichtig, es ist nicht der richtige Ansatz, ihn uns vorzuenthalten.“