Die Istanbuler Anwaltsvereinigung ÖHD hat im Namen mehrerer Angehöriger von Gefallenen des kurdischen Befreiungskampfes beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Klage gegen den türkischen Staat eingereicht. Hintergrund ist die als „Schande von Kilyos“ bekannt gewordene Exhumierung und Verschleppung etlicher Guerillaleichen. Wann das Straßburger Gericht darüber entscheidet, ist noch offen.
Zum Hintergrund: Im Dezember 2017 ordnete der türkische Staat die Zerstörung des Gefallenenfriedhofs Garzan in der nordkurdischen Provinz Bedlîs (tr. Bitlis) an. Die Ruhestätte lag in der Nähe des Dorfes Oleka Jor (Yukarı Ölek), begraben waren dort 282 Mitglieder der kurdischen Guerillaorganisationen HPG und YJA Star sowie der in Syrien aktiven Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ. Ihre Leichname wurden nach der Zerstörung des Friedhofs auf Anweisung der Staatsanwaltschaft Istanbul exhumiert und in die dortige Gerichtsmedizin verschleppt. Anschließend wurden sie auf dem jüdischen Friedhof Kilyos unweit des gleichnamigen Badeortes am europäischen Eingang des Bosporus begraben – in einem Abschnitt für „Tote ohne Namen“. Dies allerdings nicht in regulären Gräbern, sondern in Plastikboxen verpackt und aufeinandergestapelt unter einem Gehweg.
Friedhof Kilyos, Aufnahmen von März 2020 | © Mezopotamya Ajansı
Erst seit Ende 2019 ist bekannt, wohin die verschleppten Überreste der in Bedlîs begrabenen Gefallenen gebracht worden waren. Nur 22 Leichname wurden danach wieder den Angehörigen übergeben. Seit das ganze Ausmaß der Schandtat geläufig ist, bemüht sich der Verein ÖHD um Gerechtigkeit für die Toten und ihre Angehörigen. Die Organisation ist der Ansicht, dass der Umgang mit den Leichen und die Art und Weise der „Beerdigung“ in Kilyos unvereinbar mit der Menschenwürde sind und im Widerspruch zur türkischen Verfassung stehen, die – zumindest auf dem Papier – Totenfürsorgerecht und postmortales Persönlichkeitsrecht garantiert. Doch von der Justiz geforderte Konsequenzen sowohl für die Gerichtsmedizin Istanbul, die die Leichen zur Bestattung auf dem Friedhof Kilyos freigab, als auch für die Generalstaatsanwaltschaft, auf deren Anordnung die Gefallenen in Bedlîs exhumiert und verschleppt wurden, blieben aus. Weder konnte eine strafrechtliche Ahndung der Leichenverschleppung bewirkt werden, noch die Herausgabe der Knochen für eine würdevolle Bestattung. Verfahren wegen der Vorwürfe „Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener“ und „Folter“ nach entsprechenden Anzeigen gegen Beamte wurden erst gar nicht zugelassen. Zuletzt hatten der ÖHD und Gefallenenangehörige zwei Beschwerden beim türkischen Verfassungsgerichtshof eingereicht, doch die Klagen wurden wegen Unzulässigkeit beziehungsweise Nichtzuständigkeit abgewiesen.
Da nun der innerstaatliche Rechtsweg in der Türkei erschöpft ist, ist der Weg für eine Beschwerde vor dem EGMR frei. Der ÖHD macht in seinem Antrag gleich mehrere Verstöße des türkischen Staates gegen die Europäische Menschenrechtskonvention geltend, darunter gegen Artikel 8/1, der das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens garantiert. Außerdem habe die Türkei gegen das Recht auf wirksame Beschwerde (Art. 13) und das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6/1) verstoßen. Um das Verfahren zu akzeptieren, muss der europäische Menschengerichtshof den inländischen Rechtsweg für ausgeschöpft anerkennen.