Samstagsmütter erinnern an Ali Tekdağ

Am 13. November 1994 wurde Ali Tekdağ in Amed vor den Augen seiner Ehefrau von Polizisten verschleppt. Sechs Monate dauerte sein Martyrium in verschiedenen Foltergefängnissen, bis er erschossen, verbrannt und in ein Flussbett geworfen wurde.

Gefoltert, erschossen, verbrannt

Die Istanbuler Initiative der Samstagsmütter hat bei ihrer 1025. Mahnwache gegen das Verschwindenlassen in Obhut des Staates Gerechtigkeit für Ali Tekdağ gefordert. Der Kurde wurde am 13. November 1994 in Amed (tr. Diyarbakır) vor den Augen seiner Ehefrau von türkischen Polizisten verschleppt. Sechs Monate dauerte sein Martyrium in verschiedenen Foltergefängnissen an. Am Ende wurde er erschossen und verbrannt; seine sterblichen Überreste wurden am Rande der Straße zwischen Farqîn (Silvan) und Amed in ein Flussbett geworfen. Die Knochen sind bis heute nicht aufgetaucht.

Unterstützt wurde die Mahnwache der Samstagsmütter in dieser Woche wieder von verschiedenen Persönlichkeiten aus Politik und Zivilgesellschaft, darunter die DEM-Sprecherin Ayşegül Doğan, der TIP-Abgeordnete Ahmet Şık und die DEM-Abgeordnete Kezban Konukçu. Die Menschenrechtlerin Sibel Çapraz, die Vorsitzende der Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD in der kurdischen Provinz Êlih (Batman) ist, stellte den Fall von Ali Tekdağ vor.

Schon in der „Hölle Nr. 5” gefoltert

Ali Tekdağ wurde 1956 im Bezirk Karaz (Kocaköy) im Nordosten von Amed geboren. Knapp zwei Jahre nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 wurde der siebenfache Vater verhaftet und wegen fadenscheinigen „Terrorvorwürfen” zu einer fast siebenjährigen Haftstrafe verurteilt. Nachdem er den Großteil der Strafe im Gefängnis von Amed, das durch brutale Foltermethoden den Namen „Die Hölle von Diyarbakir“ oder „Hölle Nr. 5” (ein Sondertrakt des damaligen Militärgefängnisses, in dem die Folter und Entwürdigung besonders barbarisch waren) erhielt, abgesessen hatte, wurde er 1986 entlassen. In Ruhe gelassen wurde Ali Tekdağ jedoch nicht. Immer wieder überfielen Polizei- und Militärkräfte seine Wohnung, weil sie ihn als Agenten anwerben wollten. Im Zeitraum zwischen der Haftentlassung und seinem Verschwinden wurde Ali Tekdağ insgesamt neunzehn Mal auf die Polizeiwache verschleppt. Diverse Male ist die Wohnungseinrichtung bei seinen Festnahmen von Polizisten oder Soldaten zerschlagen worden. Als Grund wird unter anderem sein Engagement für die Arbeitspartei des Volkes (HEP), die 1990 gegründet wurde und bis zu ihrem Verbot 1993 ihren Schwerpunkt auf die Lösung der kurdischen Frage legte.

Sibel Çapraz, die den Fall vorstellte, kennt die türkische Polizei gut. 2015 wurde sie bei einer Demonstration in Gever von Sicherheitskräften angeschossen und noch während einer Operationsphase als vermeintliche Terroristin verhaftet © MA


Auf der Straße verschleppt

Am 13. November 1994 war Ali Tekdağ gemeinsam mit seiner Ehefrau in Sûr beim Einkaufen für seine in dem Altstadtbezirk Ameds betriebene Konditorei. Was dann geschah, schilderte Hatice Tekdağ vor Jahren in einem Interview: „Unweit des Dağkapı-Platzes merkten wir, dass uns Polizisten folgten. Irgendwann sagte Ali, ich solle fünf Minuten auf ihn warten, er hätte etwas zu erledigen. Wenig später sah ich ihn schon rennen, die Polizisten liefen ihm hinterher. In einer kleinen Seitenstraße sah ich, wie sie ihn packten, ihm die Jacke über den Kopf rissen und eine Pistole an seinen Kopf hielten. Sie zogen ihn in einen Hauseingang. Ich konnte sehen, wie sie ins Funkgerät sprachen, und rannte hin, als auch schon ein weißer Wagen um die Ecke kam, und mit meinem Mann davonfuhr.

Ich ging sofort zum Polizeipräsidium, um zu fragen, wohin mein Mann gebracht worden war. Ich erzählte, was ich gesehen hatte, aber die Polizeibeamten behaupteten, dass Ali nicht dort sei. Sie sagten sogar, dass es sich bei den Personen vermutlich gar nicht um Polizisten gehandelt habe und fragten, warum ich nicht sofort die Polizei gerufen hätte. Ich blieb dabei, dass es Polizeibeamte waren, die ihn mitgenommen hatten, da sie Waffen und Funkgeräte bei sich trugen. Und da es vor einer Bank (Şekerbank) passierte, wo viele Polizisten waren, die ja sonst eingegriffen hätten, konnte es nur die Polizei selbst sein.”

Die folgenden zwei Monate wandte sich Hatice Tekdağ immer wieder an das Polizeipräsidium, um nach ihrem Mann zu fragen – manchmal auch in Begleitung ihrer Schwiegermutter. Einmal soll sie sich so heftig mit einer Polizistin gestritten haben, dass sie in der Folge vorübergehend festgenommen wurde. Als sie dem Staatsanwalt vorgeführt wurde und ihre Geschichte erzählte, habe dieser gesagt: „Wenn du einen Zeugen findest, glauben wir es.” Hatice Tekdağ entgegnete: „Ich bin doch die Zeugin”, ermittelt wurde dennoch nicht.

Zeuge der Folter meldet sich zu Wort

Bald darauf erschien in der Özgür Gündem, die als einzige Zeitung schwerpunktmäßig über den Krieg in Kurdistan berichtete – und 2016 per Staatsdekret verboten wurde – ein Brief von einem Seyfettin Demir, der damals im Gefängnis in Amed inhaftiert war. In dem Brief schrieb Demir, dass er auf derselben Polizeidirektion in Gewahrsam war, in der er Ali Tekdağ schreien hörte: „Sie wollen mich verschwinden lassen, sagt meiner Familie Bescheid!“ Hatice Tekdağ ließ den Brief über die Rechtsanwaltskammer zur Staatsanwaltschaft weiterleiten. Nachdem die Behörde überprüft hatte, ob zum genannten Zeitpunkt ein Seyfettin Demir festgenommen wurde, kündigte die Staatsanwaltschaft umfassende Untersuchungen zum Verbleib von Ali Tekdağ an. Hatice Tekdağ besuchte Seyfettin Demir in Haft, um sich die Begegnung mit ihrem Mann bestätigen zu lassen. Von diesem Zeitpunkt an bekam sie von der Staatsanwaltschaft keine Nachricht mehr.

Aussagen von JITEM-Mörder in Zeitung

Eine ganze Weile später erhielt Hatice Tekdağ einen anonymen Anruf. Ihr wurde gesagt: „Kauf dir heute die Evrensel.“ In der Zeitung war ein Bericht über einen hochrangigen Polizeibeamten, der bei einem psychologischen Gespräch ausgesagt hatte, Ali Tekdağ in vier verschiedenen Polizeistationen in Amed und Erzîrom (Erzurum) gefoltert zu haben. Sein Martyrium habe etwa sechs Monate gedauert – immer wieder seien ihm Spritzen gegeben worden, damit er weiterlebt, Haare und Bart wären schon zusammengewachsen gewesen. Zum Schluss hätten sie Ali Tekdağ erschossen, verbrannt und in ein Flussbett geworfen. „Wir wollten ihn zum Reden bringen, aber er hat bis zum Ende nichts gesagt“. Dieser Polizeibeamte im Rang eines Offiziers sagte dann noch aus, dass außer ihm noch Alaattin Kanat (gilt als Planer des Mordes an Musa Anter) und zwei andere Personen beteiligt gewesen seien. Sie hätten dem Gouverneur jeden Tag über die Folterungen Bericht erstatten müssen. Zum Schluss sei er dann „durchgedreht“. Die Gebeine von Ali Tekdağ, dessen Bruder Mehmet ebenfalls von staatlichen Kräften extralegal hingerichtet wurde, sind bis heute nicht gefunden worden.

EGMR verurteilt Türkei

Im Fall von Ali Tekdağ wurde die Türkei im Januar 2004 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilt (Hatice Tekdağ vs. Turkey, no.27669/95, 15 January 2004.). Vor der türkischen Justiz bleibt der Mord noch immer ungesühnt. „Das wird nicht immer so bleiben“, sagte Sibel Çapraz zum Abschluss der Mahnwache. Denn es sei die Pflicht des Staates, sich der Realität der Praxis des Verschwindenlassens zu stellen, der Straflosigkeit ein Ende zu setzen und sicherzustellen, dass die Verantwortlichen vor der Justiz zur Rechenschaft gezogen werden. „Egal, wie viele Jahre vergehen, wir werden nicht aufgeben, Gerechtigkeit für Ali Tekdağ und alle anderen Verschwundenen zu fordern.“