Samstagsmütter fordern Gerechtigkeit für die Toten von Kerboran

Die Istanbuler Samstagsmütter haben bei ihrer allwöchentlichen Kundgebung auf dem Galatasaray-Platz die „Morde von Kerboran“ thematisiert. Sieben Kurden, darunter drei Minderjährige, wurden 1995 von JITEM gefoltert und getötet.

Opfer der JITEM-Morde

Die Initiative der Istanbuler Samstagsmütter ist zum 1023. Mal zusammengekommen, um die staatliche Praxis des „Verschwindenlassens” anzuprangern und Gerechtigkeit für die Opfer zu fordern. Die Kundgebung fand vor dem Galatasaray-Gymnasium auf der Istiklal Caddesi statt. Thematisiert wurde heute das Schicksal der Ermordeten von Kerboran (tr. Dargeçit). Vorgetragen wurde der Fall, der auch als „JITEM-Morde von Dargeçit” bekannt ist, von Newroz Duman – Tochter des von Todesschwadronen der Hizbullah ermordeten Kurden Nezir Duman.

Zwischen Ende Oktober und Anfang November 1995 wurden in Kerboran, einem Landkreis im Nordosten der Provinz Mêrdîn (Mardin), neun Kurd:innen von der türkischen Militärpolizei (Gendarmerie) festgenommen. Zwei von ihnen, der elfjährige Hazni Doğan und die 28 Jahre alte Hayat Altınkaynak, wurden nach einigen Tagen wieder freigelassen. Doch von den übrigen Festgenommenen – Davut Altunkaynak (12), Seyhan Doğan (13), Nedim Akyön (16), Mehmet Emin Aslan (19), Abdullah Olcay (20), Abdurrahman Coşkun (21) und Süleyman Seyhan (57) – fehlte jede Spur.

Am „Palästinenser-Haken gefoltert“

Hazni Doğan gab an, in Gewahrsam schwer gefoltert worden zu sein. Unter anderem sei die äußerst schmerzhafte Foltermethode des Pfahlhängens angewendet worden; das Aufhängen an den auf dem Rücken verbundenen Armen wird in der Türkei als Palästinenser-Haken („Filistin askısı“) bezeichnet. Auch alle anderen Festgenommenen wurden den Schilderungen des damals Elfjährigen zufolge auf diese und andere Weise gefoltert. Besonders schwerer Gewalt ausgesetzt worden sei Hazni Doğans zwei Jahre älterer Bruder Seyhan.

Einige der Vermissten wurden in einem 2013 entdeckten Massengrab verscharrt © MA

Reaktion auf Vermisstenanzeigen: Sucht in den Bergen

Die Familien suchten vergeblich nach den Vermissten, fragten bei Polizei und Staatsanwaltschaft, forderten Aufklärung. „Ihr habt unsere Kinder, Brüder, Männer lebendig mitgenommen, wir wollen sie lebendig zurück.“ Auf Vermisstenanzeigen der Angehörigen reagierten die Behörden mit der Behauptung, die Festgenommenen seien freigelassen worden und hätten sich vermutlich der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) angeschlossen. Man solle nicht auf den Fluren der Gerichte, sondern in den Bergen nach ihnen suchen. Die Akten wurden geschlossen.

Gebeine der Ermordeten in Brunnen und Höhlen verscharrt

Rund vier Monate nach den Festnahmen in Kerboran fand man in einem Brunnen die Leiche von Süleyman Seyhan. Er war verbrannt worden – unklar blieb allerdings, ob der 57-Jährige zu dem Zeitpunkt noch lebte. Außerdem fehlte der Schädel des Kurden. Bis die sterblichen Überreste der übrigen Verschwundenen gefunden wurden, sollten noch Jahre vergehen. Erst im Frühjahr 2013 fand man in Kerboran ein Massengrab, in dem der zwölfjährige Davut Altunkaynak, der ein Jahr ältere Seyhan Doğan sowie Nedim Akyön, Mehmet Emin Aslan, Abdullah Olcay und Abdurrahman Coşkun verscharrt worden waren. Ein daraufhin auf Betreiben des Menschenrechtsvereins IHD angestrengtes Verfahren gegen achtzehn Verdächtige der Morde von Kerboran und damit Militärs im Dienste des Geheimdienstes der Gendarmerie (JITEM) – verhandelt wurde auch die Tötung des Soldaten Bilal Batırır, der 1995 von seinen eigenen Leuten ermordet worden war, weil der Hinweis zum Ort der Leiche von Süleyman Seyhan an die Angehörigen von ihm kam – endete 2022 mit Freisprüchen.

Duman: Die Straflosigkeit muss enden

„Immer dann, wenn der Staat der Täter ist, werden Verantwortliche des Verschwindenlassens mit Straflosigkeit belohnt. Das ist eine systematische Politik, die in diesem Land betrieben wird, wenn die Opfer Kurdinnen und Kurden oder andere ‚Feinde‘ der Herrschenden sind“, betonte Newroz Duman in einer abschließenden Rede. Diese Straflosigkeit bleibe aber immer eine offene Wunde in einer Gesellschaft, die jederzeit wieder aufbrechen könne. „Diese Praxis verhindert die Suche der Opfer nach Gerechtigkeit und macht eine Versöhnung innerhalb der Gesellschaft unmöglich. Zudem führt die Nichtbestrafung der Täter zu einem weiteren großen Unrecht. Wenn uns aber das Recht auf Wahrheit und Gerechtigkeit nicht gewährt wird, kann auch ein Vergeben nicht gelingen. Die strafrechtliche Aufarbeitung der schweren Verbrechen, die uns widerfahren sind, muss jedoch erfolgen, um sowohl juristisch als auch gesellschaftlich eine dunkle Periode der Geschichte dieses Landes zu behandeln und Versöhnung und Frieden zu schaffen.“ Nach Dumans Rede wurden Nelken für die Toten auf dem Galatasaray-Platz niedergelegt.