Es ist der 2. Oktober 1993. Im Umland des Dorfes Vartinîs (tr. Altınova), das zum Kreis Tîl (Korkut) in der nordkurdischen Provinz Mûş gehört, finden Auseinandersetzungen zwischen PKK-Mitgliedern und dem türkischen Militär statt. Im Zuge der Gefechte wird ein Unteroffizier getötet. Für die Verantwortlichen der Armee liegt die einzige Schuld bei den Bewohner:innen von Vartinîs, weil diese den „Terroristen“ Unterschlupf gewähren würden. Auf dem Weg zur Evakuierung des toten Offiziers durchqueren die Soldaten das Dorf und geben Schüsse in die Luft ab. „Wir kommen wieder und brennen euer Dorf nieder“, heißt es später beim Verlassen von Vartinîs.
Racheakt des Militärs an der Zivilbevölkerung
Um etwa 3 Uhr in der folgenden Nacht setzen die Soldaten ihre Drohung in die Tat um. Scheunen, Tierställe und Häuser in Vartinîs gehen nach und nach in Flammen auf. Geschockte Menschen irren umher, versuchen ihre Häuser, ihr Hab und Gut, ihre Tierherden vor den lodernden Flammen zu retten. Doch die zu hunderten sich im Dorf positionierten Soldaten verhindern die Löschversuche der Menschen, gehen dabei systematisch vor. Die meisten Bewohner:innen sind am Ende nur froh, am Leben zu sein. Eine Familie hat kein Glück: Die Familie Öğüt.
Einzige Überlebende: Die älteste Tochter
Mehmet Nasir Öğüt, seine schwangere Ehefrau Eşref Oran und die gemeinsamen Kinder Sevda Öğüt, Sevim Öğüt, Mehmet Şakir Öğüt, Mehmet Şirin Öğüt, Aycan Öğüt, Cihan Öğüt und Cinal Öğüt – neun Mitglieder ein und derselben Familie, sieben davon minderjährig, verlieren auf qualvolle Weise in den Flammen ihr Leben. Später kommt heraus, dass das Haus der Öğüts durch Soldaten von außen abgeriegelt wurde. Sie haben also gar keine Chance, den Flammen zu entkommen. Nur eine Tochter der Familie überlebt: Aysel Öğüt hat Glück, weil sie die Nacht bei einer benachbarten Freundin verbringt. Sie muss mit ansehen, dass sich weder ihre Eltern noch ihre Geschwister, von denen das jüngste drei und das älteste zwölf Jahre alt ist, aus dem lichterloh brennenden Haus retten können.
Die Familie Öğüt in ihrem Haus in Vartinîs
Behörden beschuldigen PKK
Aysel Öğüt trägt ihre erste Beschwerde gegen das Massaker an ihrer Familie an die Oberstaatsanwaltschaft Muş heran. Wegen „fehlender Zuständigkeit“ – die türkischen Behörden behaupten, dass es sich um einen „von der PKK verübten Terrorakt“ handelt – wird der Fall an das Staatssicherheitsgericht Diyarbakir (ku. Amed). Die dortige Staatsanwaltschaft sieht wegen dem behaupteten Terrorakt ebenfalls keinen Anlass, die Verantwortlichen ausfindig zu machen, und schließt die Akte mit dem Verweis: „Morde unbekannter Täter“. Dabei waren die Täter des Massakers von Vartinîs von Beginn an bekannt: Bülent Karaoğlu, damaliger Hauptmann der Kommandantur der türkischen Gendarmerie im zu Mûş gehörenden Landkreis Dêrxas (Hasköy), gab den Befehl für die Tötung der Familie Öğüt, Leutnant Hanefi Akyıldız (Kompaniechef der Gendarmerie von Hasköy), Şerafettin Uz (Abteilungsleiter für Spezialoperationen der Polizei Muş) und Stabsfeldwebel Turhan Nurdoğan (Kommandant der Gendarmerie-Wache Gökyazı) beteiligten sich.
Akte wird Ball in Ping-Pong-Spiel bei Justizbehörden
Im Zuge der Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der Europäischen Union wurden 2003 eine Reihe von Gesetzesänderungen vorgenommen. Aysel Öğüt nahm dies zum Anlass, erneut Anzeige zu erstatten. Dieses Mal legte die Staatsanwaltschaft in Mûş Beschwerde bei der Militärstaatsanwaltschaft des 8. Korps von Elazığ (Xarpêt) als zuständige Anklagebehörde gegen die Beschuldigten ein. Weil dort sieben Jahre lang nichts geschah, war wieder der Staatsanwalt von Muş am Zug. 2013, nach zweijähriger Suche nach einem Gericht, das sich bereit erklärte, wurde Anklage gegen Bülent Karaoğlu und seine Soldaten erhoben. Der Vorwurf: Brandstiftung mit Todesfolge in neun Fällen. Es begann ein Ping-Pong-Spiel bei den Justizbehörden, die sich aus „Sicherheitsgründen“ nicht entscheiden wollten, wo das Verfahren um das Massaker von Vartinîs verhandelt werden sollte. Man entschied sich schließlich für Kırıkkale im Osten von Ankara. Das dortige Strafgericht sprach alle Angeklagten frei.
Kassationshof: Freispruch für Karaoğlu rechtswidrig
2016 landete die Akte Vartinîs beim Kassationsgerichtshof. Das oberste Berufungsgericht der Türkei stellte fünf Jahre später in seiner Urteilsbegründung für ein Wiederaufnahmeverfahren fest: „Zeugenaussagen bestätigen, dass der Angeklagte, der als Gendarmerie-Divisionskommandeur des Bezirks Hasköy fungierte, an der Operation teilgenommen hat. In seiner Pflicht als Befehlshaber der Gendarmerie des Distrikts wäre es ohnehin undenkbar, dass sich der Angeklagte an einer Operation in seinem Verantwortungsbereich als Person mit dem höchsten Rang nicht beteiligt. Unter Bezugnahme auf seine Äußerungen nach dem Tod des Unteroffiziers besteht kein Zweifel daran, dass der Brand gemäß den Anweisungen und Befehlen des Angeklagten verursacht worden ist.“ Weiter heißt es, dass der Tatbestand Brandstiftung mit Todesfolge von den Instanzgerichten fehlerhaft dargestellt wurde, der Freispruch für Karaoğlu „als Verantwortlicher des Hausbrands“ somit rechtswidrig war. Im Wiederaufnahmeverfahren müsse der Vorwurf lauten: „Anstiftung zur qualifizierten Form der Tötung“. Die Freisprüche für die drei anderen Militärs wurden vom Kassationshof bestätigt.
Verbrechen gegen die Menschlichkeit verjähren nicht, aber…
Seit September 2021 lief das Verfahren zur Neuentscheidung um das Massaker an der Familie Öğüt vor der 1. Großen Strafkammer im zentralanatolischen Kırıkkale – den Worten der Nebenklage zufolge jedoch nur zum Schein. Sie äußerte in jeder Verhandlung seit Beginn des Prozessauftakts die Befürchtung, dass die Sache wohl juristisch so lange hinausgezögert wird, bis die Verjährung eintritt. Der Umstand, dass das Gericht hartnäckig alle Anträge auf Entscheidung nach Aktenlage sowie für eine Behandlung des Falls gemäß Paragraf 77 des türkischen Strafgesetzbuches abgewiesen hat, deute ohnehin darauf hin. Der Artikel regelt die strafrechtliche Ahndung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, deren Vollstreckung nicht verjährt. Dagegen tritt die Verjährung bei Mord und anderen Straftaten, die mit lebenslanger Haft bedroht sind, nach dreißig Jahren ein.
Straflosigkeit für staatliche Morde an Kurdinnen und Kurden hat Tradition
Am Montag bestätigte sich schließlich, dass die türkische Justiz nicht gewillt ist, Gerechtigkeit zu üben. Das Gericht stellte das Verfahren um das Massaker von Vartinîs wegen Verjährung ein. Damit ist auch der Haftbefehl nichtig, der vor mehr als zwei Jahren gegen den einzigen Angeklagten Bülent Karaoğlu ausgestellt worden war. Der Ex-Militär galt ohnehin als „unauffindbar“. Die Praxis der Straflosigkeit für staatliche Morde an Kurdinnen und Kurden hat in der Türkei Tradition. Mit einem offenen Bruch mit der Vergangenheit rechnet niemand.