Das Massaker von Vartinîs reiht sich ein in die ungebrochene Kette von Grausamkeiten, die die Geschichte des kurdischen Volkes durchzieht. Es ist der 2. Oktober 1993, als es in der kleinen Gemeinde im Kreis Tîl (tr. Korkut) bei Mûş, deren türkischer Name Altınova lautet, zu Auseinandersetzungen zwischen PKK-Mitgliedern und dem türkischen Militär kommt. Im Zuge der Gefechte wird ein Unteroffizier getötet. Für die Verantwortlichen der Armee liegt die einzige Schuld bei den Bewohner:innen von Vartinîs, weil diese den „Terroristen“ Unterschlupf gewähren würden. Auf dem Weg zur Evakuierung des toten Offiziers durchqueren die Soldaten Vartinîs und geben Schüsse in die Luft ab. „Wir kommen wieder und brennen euer Dorf nieder“, heißt es später beim Verlassen.
Um etwa 3 Uhr in der folgenden Nacht setzen die Soldaten ihre Drohung in die Tat um. Scheunen, Tierställe und Häuser in Vartinîs gehen nach und nach in Flammen auf. Geschockte Menschen irren umher, versuchen ihre Häuser, ihr Hab und Gut, ihre Tierherden vor den lodernden Flammen zu retten. Doch die zu hunderten sich im Dorf positionierten Soldaten verhindern die Löschversuche der Menschen, gehen dabei systematisch vor. Die meisten Bewohner:innen sind am Ende nur froh, am Leben zu sein. Eine Familie hat kein Glück: Die Familie Öğüt.
Die Familie Öğüt
Mehmet Nasir Öğüt, seine schwangere Ehefrau Eşref Oran und die zwei bis vierzehn Jahre alten Kinder Sevda Öğüt, Sevim Öğüt, Mehmet Şakir Öğüt, Mehmet Şirin Öğüt, Aycan Öğüt, Cihan Öğüt und Cinal Öğüt verlieren auf qualvolle Weise in den Flammen ihr Leben. Später kommt heraus, dass das Haus der Öğüts durch Soldaten von außen abgeriegelt wurde. Sie haben gar keine Chance, den Flammen zu entkommen. Nur eine Tochter der Familie überlebt: Aysel Öğüt hat Glück, weil sie die Nacht bei einer benachbarten Freundin verbringt. Sie muss mit ansehen, dass sich weder ihre Eltern noch ihre Geschwister aus dem lichterloh brennenden Haus retten können.
Versammlungsverbot gegen Gedenken
28 Jahre nach der Tat wollte der Provinzverband der Demokoratischen Partei der Völker (HDP) an diesem Sonntag vor dem Haus der Familie Öğüt, das mittlerweile als Gedenkmuseum dient, zusammenkommen, um an das Massaker zu erinnern. Geplant war zudem, eine öffentliche Erklärung zum Wiederaufnahmeverfahren gegen den damaligen Befehlshaber der Gendarmerie, Bülent Karaoğlu, abzugeben. Doch das Gouverneursamt für die nordkurdische Provinz erließ am Sonntagfrüh überhastet ein 15-tägiges Versammlungsverbot. Die Presseerklärung wurde abgesagt, einen Besuch in dem Haus der Familie Öğüt konnte die massive Militärpräsenz aber nicht verhindern.
Militär leugnet Massaker
Anwesend vor Ort war auch Şevin Coşkun, HDP-Abgeordnete für den Wahlkreis Mûş. Die Politikerin lieferte sich ein Wortgefecht mit Soldaten, die das Massaker in Vartinîs mit der Behauptung, „darüber gibt es keinen Eintrag“ leugneten und den Zutritt in das Haus zunächst verweigerten. Als Coşkun erwähnte, dass Karaoğlu zur Fahndung ausgeschrieben ist, machten die Militärs einen Rückzieher. Im Anschluss an den Besuch in der Gedenkstätte gab es einen Rundgang durch die Gemeinde. Şevin Coşkun führte eine Vielzahl von Gesprächen zur Situation der Einwohner:innen und beantwortete Fragen der Gewerbetreibenden, bevor sie wieder Richtung Ankara abreiste.
Haftbefehl im Wiederaufnahmeverfahren
Vergangenen Mai ordnete die 1. Strafabteilung am türkischen Kassationshof in Ankara die Wiederaufnahme des Verfahrens um das Massaker von Vartinîs an. Der Freispruch für Bülent Karaoğlu, der 1993 Hauptmann der Kreiskommandantur der türkischen Gendarmerie in Dêrxas (Hasköy) war und laut dem obersten Berufungsgericht den Befehl für das Massaker gab, wurde aufgehoben. Seit dem 21. September wird der Prozess an der 1. Großen Strafkammer im zentralanatolischen Kırıkkale verhandelt. Der Angeklagte erschien wie erwartet nicht vor Gericht, doch der zuständige Richter erließ einen Haftbefehl. Am morgigen Montag wird der Prozess fortgesetzt, vollstreckt wurde die Haftanordnung bislang aber nicht.