„Kranke Gefangene müssen freikommen, bevor es zu spät ist“

Die etwa ein Jahr inhaftierte schwer verletzte Gefangene Sibel Çapraz weist auf die alarmierende Lage der kranken Gefangenen in der Türkei hin und fordert deren sofortige Freilassung.

Seit ihrer Freilassung befindet sich Sibel Çapraz in ständiger Behandlung. Im November 2015 war die junge Frau bei einem Protest im nordkurdischen Gever (Yüksekova), bei dem mit Töpfen und Geschirr geklappert wurde, von der Polizei angeschossen und schwer verletzt worden. Gut drei Monate später, in denen sie sich 14 Operationen unterziehen musste, wurde Sibel Çapraz am 2. März 2016 während der Fahrt in eine Klinik in Wan verhaftet. Fast ein Jahr befand sie sich unter sehr schlechten Haftbedingungen im Gefängnis. ANF sprach mit ihr über ihre Erfahrungen und die Situation der kranken Gefangenen. Çapraz berichtete auch von einem Brief des kranken Gefangenen Ergin Aktaş, mit dem sie dreieinhalb Monate im Typ-R-Gefängnis in Izmir inhaftiert war. Es sei ein Gefängnis, das für die kranken Gefangenen einen Tanz mit dem Tod darstelle.

Aus dem geschlossenen Frauengefängnis von Bakırköy in Istanbul wurde Çapraz im Februar des vergangenen Jahres entlassen. Die Verbindung zu den kranken Gefangenen hält sie weiterhin aufrecht.

Von Polizeikugeln schwer verletzt

Als Sibel Çapraz im Provinzrat der Partei der demokratischen Regionen (DBP) in Colemêrg (Hakkâri) saß, fand am 27. November 2015 eine Aktion des zivilen Ungehorsams statt. Die Menschen protestierten gegen die Belagerung und den Beschuss ganzer Stadtviertel durch das türkische Militär. Während dem Protest wurde die Politikerin durch Polizeischüsse in den Bauch und in den Arm schwer verletzt. Nach 96 Behandlungstagen wurde Çapraz noch unter Wirkung der Narkose der Staatsanwaltschaft vorgeführt und wegen „Mitgliedschaft in einer verbotenen Organisation“ inhaftiert. Obwohl ihre Eingeweide offen lagen, sie nur über eine Sonde ernährt werden und sich nicht selbst versorgen konnte, verbrachte sie fast ein Jahr in Haft. In ihrer Akte stand zwar, dass sie Rehabilitation benötigte, stattdessen begann die Repression bereits direkt am Anfang ihrer Haftzeit im Gefängnis. Das, was Çapraz über ihre Haftzeit erzählt, wirft ein Schlaglicht auf die Lage der kranken Gefangenen.

Leere Schachtel als WC-Ersatz

Von dem Moment, in dem sie ins Frauengefängnis von Bakırköy gebracht wurde, erzählt Çapraz, als sei es erst gestern gewesen. Ihr ganzer Körper war in Verbände gewickelt, dennoch sollte sie einer Nacktdurchsuchung unterzogen werden. Obwohl sie sich nicht selbst versorgen konnte, wurde sie eine Nacht in einem schmutzigen Beobachtungsraum festgehalten. Forderungen nach Verbringung auf die Krankenstation wurden ignoriert. Çapraz konnte nicht einmal alleine auf die Toilette gehen. Sie erzählt: „Da es in der Zelle keine Sitztoilette gab, konnte ich nicht auf Toilette, weil ich mich aufgrund der Schmerzen nicht beugen konnte. Ich rief den Wärter und erzählte ihm von meinem Problem. Fünf Minuten später brachte mir das Personal eine auf der Unterseite perforierte Kiste. Obwohl ich Dutzende Male betonte, dass diese Kiste nicht sauber sei und ich mich infizieren könnte, wurde mir nicht geholfen. Auf diese Weise verbrachte ich die Nacht. Weder meine Forderung nach Schmerzmitteln, noch die Möglichkeit, die Toilette zu benutzen wurde mir in irgendeiner Weise gegeben.“

Obwohl sie nicht dazu befugt war, versuchte die Gefängnisverwaltung am folgenden Tag, Çapraz zu verhören. Danach wurde sie in eine Gemeinschaftszelle verlegt, in der sie zwei Monate im Bett verbrachte. Ihre Zellengenossinnen kümmerten sich um ihre Versorgung. Der anschließende Transport ins Krankenhaus Baltalimanı in Sarıyer artete zur Folter aus.

Nachdem sie sich etwas gesammelt hatte, wurde Çapraz gegen ihren Willen unter dem Vorwand der medizinischen Behandlung ins Typ-R-Gefängnis in Menemen, Izmir verlegt. Rehabilitierende Maßnahmen wurden dort allerdings nicht durchgeführt, stattdessen beschreibt sie ihre Erfahrung als langsames Sterbenlassen der kranken Gefangenen. Monatelang hielt man Çapraz in Einzelhaft. Sie beschreibt die Bedingungen als „so schrecklich, dass selbst ein gesunder Mensch, der dort hineingeht, krank herauskommen würde“.

Von ihrer Situation und der Lage des kranken Gefangenen Ergin Aktaş, dem beide Hände fehlen, erzählt sie: „Ich war gezwungen, in einer wie eine Kloake stinkenden Einzelzelle meine Toilettengänge und meine Nahrungsaufnahme durchzuführen und mich zu waschen. Ich erfuhr, dass Ergin auch dort war. Wir konnten uns durch die Lüftung unterhalten, denn das Gefängnispersonal erlaubte uns nicht, in Kontakt zu treten. Zwar sollen dort Kranke behandelt werden, soziale Aktivitäten gab es allerdings keine. Im Gegenteil; die Kranken werden sowohl physisch als auch psychisch vollkommen isoliert. Eine Ausstattung zur Behandlung der Kranken gibt es in dem Gefängnis auch nicht. Die Ärzte gehörten zu einem Subunternehmen und konnten nichts anderes tun, als dich ins Krankenhaus zu überweisen, so wie es auch in Bakirköy ablief. Es hatte sich also nichts geändert. Das Krankenhaus war jetzt allerdings etwa 1,5 Stunden Autofahrt entfernt. Bei jeder Fahrt dorthin erlebten wir die furchtbaren Bedingungen in den Gefangenentransportern.“

Selbst im Krankenhaus kein Raum für Physiotherapie

„Als einzige weibliche politische Gefangene wurde ich immer wieder gefesselt und mit männlichen Strafgefangenen in ein Transportfahrzeug gesperrt, wenn ich ins Krankenhaus fuhr. Sowohl während des Gefangenentransportes als auch im Krankenhaus wurde ich wiederholt Ziel von verbalen Angriffen. Das Krankenhaus, in das ich zur Physiotherapie gebracht wurde, hatte keinen entsprechenden Raum. Ich wurde unter erbärmlichen Bedingungen in einem Besuchsraum behandelt, in dem normalerweise die Gefangenen ihre Angehörigen treffen können. Die Strafgefangenen benutzten den gleichen Hof und das gleiche Bad und wir mussten jederzeit mit Provokationen rechnen. Zum Beispiel wurde Ergin Aktaş von einem Soldaten, der wegen Vergewaltigung einsaß, aus einer Nachbarzelle pausenlos mit verbalen Belästigungen, Drohungen und Beleidigungen überzogen. Ich versuchte einige Male gegenzuhalten, habe gegen die Türen geschlagen und wenn mir ähnliches geschah, dann tat Ergin das Gleiche. In jeder Hinsicht waren wir miteinander solidarisch. Um gegen diese schlechten Bedingungen im Gefängnis zu protestieren, haben wir gemeinsam einen einwöchigen Hungerstreik durchgeführt. Aufgrund der Proteste in der Presse und der massiven Reaktion der Frauenbewegung wurde ich wieder in das Gefängnis von Bakırköy verlegt.“

Haft im Typ-R-Gefängnis Tanz mit dem Tod

Am 28. Februar 2017 wurde Çapraz unter Meldeauflagen entlassen. Auch wenn sie nach einer Serie von riskanten Operationen wieder laufen kann, ist es ihr aufgrund der Verschleppung ihrer Behandlung nicht möglich, ihre rechte Hand und den rechten Arm zu benutzen. Die Ermittlungen gegen die Polizisten, die sie gezielt angeschossen haben, wurden eingestellt. Die Anklage gegen Çapraz wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation“ wurde vom Berufungsgericht aufgehoben und in „Gefährdung der Einheit und territorialen Integrität des Staates“ verschärft.

Aufgrund ihrer Behandlung ist sie im Moment nicht in der Lage zu politischer Arbeit. Dennoch versucht Çapraz, die Stimmen der nicht ausreichend gehörten kranken Gefangenen hörbar zu machen. Sie sagt: „Ich mag aus dem Typ-R-Gefängnis in Izmir entlassen worden sein, die Realität in diesem Folterzentrum bleibt jedoch bestehen.“

Das bestätigte auch der letzte Brief, den sie von Ergin Aktaş erhielt. Er schreibt, dass er einen 36-tägigen Hungerstreik durchgeführt habe, da in seine Nachbarzellen IS-Mitglieder gesperrt wurden, die ihn andauernd bedrohen. Am Ende des Hungerstreiks sei Ergin gemeinsam mit dem Gefangenen Ehmedî Xamî in eine andere Zelle verlegt worden. Xamî kämpfte in Rojava/Nordsyrien gegen den sogenannten Islamischen Staat und ist seit einer Verletzung von der Hüfte ab querschnittsgelähmt. Çapraz sagt dazu: „Einer hat keine Hände, der andere keine Beine. Einer wurde des Anderen Hand und der Andere wurde des Einen Bein. Das ist das einzige, was geschehen ist. Das ist das, was die Gefängnisverwaltung unter ‚Lösung‘ versteht. Weder verlegen sie die Gefangenen in die Nähe ihrer Familien noch werden sie freigelassen.“

Çapraz weist auch auf die Situation von Süreyya Bulut hin, die in Bakirköy inhaftiert ist. Sie hat Tuberkulose und spuckt Blut. Sie sei zwar zwei Monate im Krankenhaus behandelt worden, aber die Blutwerte ihrer Mitgefangenen sollen positive Werte ergeben haben. Çapraz weißt nicht, ob über die Zellen eine Quarantäne verhängt wurde. Sie fordert, dass die kranken Gefangenen umgehend freigelassen werden, bevor es zu spät ist.