Willkürliche Haftverlängerungen in Bolu
Im Hochsicherheitsgefängnis von Bolu sitzen derzeit 33 politische Gefangene weiterhin ein, obwohl sie ihre reguläre Haftzeit von 30 Jahren bereits verbüßt haben. Die meisten von ihnen wurden zu lebenslanger oder verschärfter lebenslanger Haft verurteilt. Ihre Entlassung wird jedoch vom sogenannten Beobachtungsausschuss der Vollzugsanstalt systematisch blockiert – auf Grundlage fragwürdiger Begründungen wie etwa einer „übermäßigen Nutzung von Wasser“ oder „fehlender Gespräche mit dem Gefängnisimam“.
Juristisch zweifelhafte Entscheidungen durch nicht-juristische Gremien
Die Ausschüsse, die über diese folgenschweren Entscheidungen befinden, setzen sich aus Vollzugsangestellten zusammen – darunter auch solche, die laut Menschenrechtsorganisationen in der Vergangenheit in Misshandlungen von Gefangenen verwickelt waren. Eine unabhängige juristische Kontrolle fehlt weitgehend, obwohl die Entscheidungen massive Eingriffe in das Grundrecht auf Freiheit darstellen.
Anwalt: Systematische Verlängerung der Haftstrafen
Der Anwalt Ishak Demirel von der Vereinigung freiheitlicher Jurist:innen (ÖHD) in Istanbul berichtet, dass unter den Betroffenen in Bolu Gefangene seien, deren Entlassung bereits zum fünften Mal abgelehnt wurde – einige der insgesamt über 130 politischen Gefangenen sind demnach seit über 32 Jahren in Strafhaft. „Diese Gefangenen haben ihre Strafe längst verbüßt. Ihre Haftzeit wurde zum Teil wegen disziplinarischer Maßnahmen wie Einzelhaft künstlich verlängert – obwohl entsprechende Entscheidungen vom Kassationsgericht aufgehoben wurden. Trotzdem hält der Beobachtungsausschuss an seiner Haltung fest, Entlassungen zu verweigern, und ignoriert bindende Gerichtsurteile“, so Demirel.
Absurde Begründungen widersprechen realen Haftbedingungen
Die Argumente des Ausschusses wirken oft konstruiert oder widersprüchlich. So wird den Gefangenen etwa vorgeworfen, zu wenig Bücher auszuleihen – obwohl die Anzahl der Bücher im Hochsicherheitsgefängnis von Bolu und auch allen anderen Haftanstalten mit politischen Gefangenen ohnehin kontingentiert ist. Auch die Kritik am Wasserverbrauch sei unhaltbar, meint Demirel: „Inhaftierte haben nur eine begrenzte Wassermenge pro Tag zur Verfügung, sie können es gar nicht übermäßig nutzen.“
Ideologische Willkür
Weitere Ablehnungsgründe, wie der Nichtinanspruchnahme eines Gesprächs mit dem Imam oder Gefängnispsychologen, aber auch der Verzicht externer Bildungsangebote, entbehren jeder juristischen Grundlage. „Diese Argumente zeigen, wie willkürlich und ideologisch motiviert diese Entscheidungen sind. Es handelt sich hier um eine Form des Feindstrafrechts gegen politische Gefangene, insbesondere Kurd:innen“, betont Demirel.
Institutionelle Hürden bis zur Freilassung
Selbst wenn Gefangene positive Einschätzungen durch die Strafvollstreckungsgerichte erhalten, werden deren Entlassungen häufig durch Einwände von Staatsanwaltschaften oder Gerichten für schwere Straftaten erneut blockiert, erklärt der Jurist. Dieses Vorgehen führt zu einer endlosen Verlängerung der Haftzeit – entgegen jeglichen rechtsstaatlichen Prinzipen. Demirel sagt: „Menschenrechtsorganisationen und Anwaltsverbände fordern seit Langem eine grundlegende Reform der Beobachtungsausschüsse und eine unabhängige juristische Kontrolle solcher Entscheidungen. Der Fall Bolu zeigt exemplarisch, wie das bestehende System zur systematischen Unterdrückung politischer Gefangener genutzt wird.“
Hintergrund „positive Sozialprognose“
In der Türkei ist seit einer Gesetzesänderung im Jahr 2021 die frühzeitige Haftentlassung an eine „positive Sozialprognose“ geknüpft. Über diese Prognose entscheidet der „Beobachtungsausschuss“ der jeweiligen Justizvollzugsanstalt. Besonders bei politischen Gefangenen, darunter viele Kurd:innen, wird dieses Verfahren nach Einschätzung von Menschenrechtsorganisationen gezielt zur Haftverlängerung eingesetzt.